www.bikeamerica.de - Reisebericht über unsere Panamericana-Tour 12

Chile - der Welt längstes Handtuch

von San Pedro de Atacama nach Puerto Montt

Müsste man bei "Wetten, dass?" oder bei Günther Jauchs "Wer wird Millionär?" Länder der Welt nach ihrem Umriss bestimmen, bei Chile wäre das eine einfache Aufgabe: 4300 Kilometer lang ist dieses Land bei durchschnittlich nur knapp 200 Kilometern Breite, schmäler als ein Handtuch. Wollte man eine einteilige Chile-Karte im Maßstab 1:1 Mio. drucken, so wäre diese 4,30 Meter lang und vielleicht 30 Zentimeter breit. Verwaltungsmäßig haben die Chilenen ihr Land etwas prosaisch in zwölf von Nord nach Süd mittels römischer Zahlen durchnummerierte Regionen untergliedert. San Pedro de Atacama liegt fast ganz oben, Region II - knapp drei Monate, schätzen wir mal, werden wir brauchen bis Feuerland, Region XII (Magellanes y Antarctica). Dort unten gibt es gar nicht mehr überall Straßen, zwischenzeitlich werden wir auf argentinisches Territorium ausweichen müssen. Und wir werden nahezu alle möglichen Landschafts- und Vegetationsformen passieren (abgesehen mal von tropischem Regenwald): hitzeflirrende Wüsten, gemäßigte Breiten mit dem "Garten Chiles", von schneebedeckten Vulkanen überragte Wälder und Seen weiter im Süden, dann tiefeingeschnittene Fjorde und bizarre Gletscher mit unvorstellbaren Eismassen, schließlich die sturmdurchtosten Steppen Patagoniens. Da sind wir mal gespannt. 

Vom ewigen Eis sind wir in San Pedro allerdings noch weit entfernt, abgesehen mal vom ewig und auf der ganzen Welt präsenten Konzern Nestlé, in Chile vertreten mit seinem guten Stieleis Marke "Bresler". Wann haben wir uns zum letzten Mal getraut Eis zu essen? Mann, und hier gibt es doch tatsächlich richtige kleine Supermärkte mit einem einfach fantastischen Angebot an lange entbehrten Köstlichkeiten: Knuspriges Weißbrot, echte Butter, frische Schinkenwurst, Orangensaft, Sprudel mit Kohlensäure, grünen Salat, überquellende Obstkörbe, Müsli von Quaker Oats.... Wir haben die Auswahl zwischen zehnerlei Joghurtsorten, mindestens genauso vielen Nudelsoßen, es gibt frisch geriebenen Parmesan, feinstes Olivenöl und ein geniales Weinregal, und zum Nachtisch - Ritter Sport, con leche alpina! Da bleibt uns doch fast die Luft weg; schnell greifen wir zu, bevor diese Gottesgabe womöglich noch schlecht wird.

Endlich wieder gutes Futter!

Ganz besonders genießen wir es auch, dass man zum Abendessen mal wieder draußen sitzen kann, sei es auf der Terrasse vor unserem Zimmer oder in einem der zahlreichen Restaurants. In Bolivien wären uns da die Ohren abgefallen. Das Klima in San Pedro mit seinen 2400 Höhenmetern ist sehr angenehm, tagsüber trocken heiß, abends frisch, jedoch nicht kalt - hier kultiviert man die Atacama-Version des Biergartens: In den Innenhöfen der einstöckigen Restaurants brennt ein wunderbares Holzfeuer, drumrum eine Reihe von Tischen vor wärmereflektierenden Lehmziegelmauern. Sehr beliebt sind diese Kneipen, manchmal auch mit fetziger Musik, und dann seit langem mal wieder eine echte Holzofenpizza - mag sein, dass San Pedro eine Gringo-Hochburg ist und nicht mehr sonderlich authentisch; wir jedoch genießen hier jede Minute und schaffen fast den Absprung nicht mehr.

Auch kulturell und landschaftlich bietet San Pedro einiges. Das Städtchen war früher Zentrum der Atacama-Indianer, die dann gegen 1540 von den Inkas unterworfen wurden. Noch heute ist die Oase in 15 Ayllus, indianische Siedlungsgemeinschaften, unterteilt. San Pedro sieht trotz allem Tourismus auch heute noch wesentlich indianischer aus als nahezu jede andere Siedlung in Chile. Hübsch anzusehen ist die kleine, blendend weiß gekalkte Lehmziegel-Dorfkirche mit ihrer Dachkonstruktion aus Kaktusholz, die statt von Nägeln durch Lederriemen zusammengehalten wird. Und das archäologische Museum, eingerichtet vom belgischen Padre Gustavo Le Paige, der 1955 als Seelsorger hierher kam und dann zum Archäologen wurde, gilt als eines der besten des Landes. Berühmt ist es vor allem durch "Miss Chile", eine über 1000 Jahre alte Mumie mit süffisantem Grinsen, perfekt erhalten in der Trockenheit der Atacama-Wüste. Die Atacama gilt als trockenster Fleck der Erde - eindrucksvoll kann man sich davon überzeugen, wenn man beispielsweise im nahen Valle de la Luna auf die große Düne steigt und das Auge schweifen lässt: Keine einzige Pflanze rundum, noch nicht einmal ein Anflug von Flechten, abgesehen von der durch einen unterirdischen Fluss gespeisten grünen Oase. Und dahinter die grandiose Kulisse der Fünf- und Sechstausender, dominiert durch den perfekten Vulkankegel des Licancabur.

Im Valle de la Luna

Ebendiese extreme Atacama-Wüste breitet sich jetzt für die nächsten 1200 Kilometer vor unseren Reifen aus, als wir uns doch nach etlichen Tagen wieder in den Sattel schwingen. Erst nach rund 800 Kilometern wird wenigstens etwas spärliches Grün das Auge erfreuen, abgesehen mal von ganz wenigen weit auseinanderliegenden Oasen, die zudem meistens durch Tiefbohrungen entstanden sind. Im Gegensatz zur peruanischen Küstenwüste gibt es hier nämlich so gut wie keine Flüsse, die zum Meer hin fließen und genügend Wasser für Pflanzungen mitbringen könnten.

Gleich die erste Etappe von San Pedro nach Calama ist ein Hammer. Nicht so wegen der Steigung am Anfang, die uns noch einmal auf fast 3500 Höhenmeter hinaufbringt. Auch nicht wegen der Länge - 100 Kilometer fahren wir sonst manchmal schon am Vormittag. Nein, es ist die Endgültigkeit und Brutalität, die dieser Landstrich vermittelt. Schon die Namen der einzelnen Geländeabschnitte sprechen für sich: Zuerst geht es über die Cordillera de la Sal, ein Gebirge ganz aus Salz. Kein Mensch baut es ab hier, das wäre viel zu abseits aller Absatzmärkte und würde sich nie rentieren. Dann der Llano de la Paciencia, die "Ebene der Geduld". Schnurgerade führt die Straße hindurch; obwohl es bergab geht und der Asphalt absolut vom Feinsten ist, scheinen wir nicht vorwärts zu kommen. Später folgt die Pampa del Indio muerto. Die Bezeichnung sagt eigentlich alles. Hier sieht es aus, als hätte ein Riese etliche Milliarden Tonnen Gleisschotter ausgekippt, alles so weit das Auge reicht mit einem gigantischen Rechen verteilt und eine Prise Sand darüber geblasen. Manchmal sieht man Staub- und Sandwolken am Horizont; sie wirken greifbar nah und sind doch bis zu 30 Kilometer entfernt. Eine waagrechte Staubwolke verrät ein Fahrzeug, eine senkrechte eine Windhose. Auch Calama sehen wir schon gut 30 Kilometer vorher. Mittlerweile hat jedoch ein Gegenwind fast in Orkanstärke eingesetzt, der zudem aus einem heißen Ofenloch zu kommen scheint. Für die 30 Kilometer brauchen wir 4 (vier!) Stunden, ein paar Kilometer gehen wir gar zu Fuß. Wir haben keinen Tropfen Wasser mehr, obwohl wir mit sieben Litern gestartet sind. Die Atacama macht demütig - ihre Gesetze zu missachten ist Unsinn, das haben wir heute begriffen. Der stürmische Südwestwind setzt täglich gegen 11.00 Uhr ein, spätestens ab Mittag; dann muss man sein Tagesziel erreicht haben oder nix geht mehr. Mit dieser Erkenntnis suchen wir uns ein gutes Hotelzimmer, kaufen drei Liter Orangensaft und sechs Liter Sprudel. Bis am nächsten Morgen haben wir alles getrunken.

Die "Ebene der Geduld"

In Calama ist ein kleiner Stopover fällig. Nahebei lockt die berühmte Kupfer-Tagebaumine Chuquicamata, das größte Loch der Welt. Das wollen wir unbedingt sehen, doch haben wir nicht bedacht, dass morgen Sonntag ist und dort nicht gearbeitet wird. So haben wir genügend Zeit, ein wenig in der kleinen Stadt zu flanieren, die in jedem Reiseführer als "hässlich", "reines Versorgungszentrum der Minenarbeiter" und "typischer Durchgangsort" beschrieben wird. Seltsam, wie doch die Betrachtungsweise zivilisationsentwöhnter Reiseradler von der des Normaltouristen differiert - uns gefällt Calama sehr gut mit seiner netten Plaza, dem hübschen grünen Park mit gemütlichen Bänken, einer ansprechenden Fußgängerzone, wo abends zufrieden aussehende Bürger flanieren und, last but not least, einem gigantischen Einkaufszentrum. Das ganze mitten in der Wüste, wohlgemerkt, außer ein paar Minen in weitem Umkreis nichts.

Interessant auch, wie europäisch Chile geprägt ist, so im Vergleich mit anderen lateinamerikanischen Ländern. Fiats, Renaults und Opel bestimmen das Straßenbild, und die im 19. Jahrhundert in Scharen eingewanderten Deutschen (und Italiener) haben besonders deutliche Spuren hinterlassen; vor allem in Südchile, aber auch schon hier in Calama fällt das auf. Glänzend heißt ein bekanntes Reinigungsunternehmen, Rotter & Krauss eine landesweit vertretene Optikerkette, im Café bestellt man Kuchen statt Pasteles, die Kids gehen in den Kindergarten, und wir gehen ins Restaurant "Bavaria". Eine Filiale davon gibt es fast in jeder chilenischen Kleinstadt. Kassler mit Sauerkraut und Kartoffelbrei ist dort die Spezialität, dazu ein Schop grande, ein großes, frisches Bier vom Fass.

Im "Bavaria"

Als mittlerweile bekennende Reis-mit-Huhn-Totalverweigerer sind wir absolut begeistert und lassen kaum ein "Bavaria" in ganz Chile aus. Wir stellen uns vor, wie vielleicht beim Filialleitertreffen am Jahresende einer der Manager zu seinen Kollegen sagt: "Stellt euch vor, bei mir waren zwei so verrückte Radler aus Alemania, die haben meine ganzen Kartoffelbrei-Reserven weggefressen!" Darauf ein anderer: "Was, bei dir waren die auch? Bei mir haben sie so zugeschlagen, dass in der Sauerkrautfabrik eine Nachtschicht angekurbelt werden musste." Sollte die Bavaria-Kette jemals mit dem Pleitegeier gekämpft haben, also an uns lag's nicht - wir haben die Rentabilität dieses Ladens für mindestens ein Jahr sichergestellt.

Am Montag kann endlich unser kleiner Ausflug nach Chuquicamata steigen. Der Receptionista unseres Hotels hat uns telefonisch bei der Betreibergesellschaft CODELCO angemeldet; nachmittags um 14.00 Uhr beginnt unsere Führung. Zwei Münchner, die auch in unserem Hotel wohnen, nehmen uns in ihrem gemieteten Wohnmobil mit nach Chuqui hinaus, 15 Kilometer one way. Eine schnurgerade Autobahn verbindet Calama mit der Kupferstadt; schon von weitem sieht man eine gigantische Staub- und Rauchwolke in der Luft. Im Besuchszentrum werden penibel unsere Daten überprüft und die Passnummern festgehalten, dann gibt es zunächst mal einen umfangreichen Vortrag über Kupferabbau und -verhüttung, bevor wir in einem modernen Reisebus, untermalt durch fetzige Musik, hinausgekarrt werden zur Aussichtsterrasse über der vier Kilometer langen, zwei Kilometer breiten und siebenhundert Meter tiefen terrassenförmigen Grube. Sehr beeindruckend ist das; wie Spielzeug sieht man drunten ein paar gigantische Bagger und unzählige Muldenkipper, die wie an einer Perlenschnur nach oben kriechen. Beiläufig erfahren wir, dass diese Kipper 1600 PS haben, 170 Tonnen transportieren können, zwei Liter Diesel pro Minute brauchen, rund um die Uhr zehn Jahre lang im Einsatz sind und pro Stück 3 Millionen US$ kosten. Jeder Kipper hat sechs Reifen, die über vier Meter hoch sind, pro Stück 25.000 US$ kosten und maximal acht Monate halten.

Chuquicamata

Was sich wie gigantische Unkosten anhört, relativiert sich natürlich - pro Stunde wird für mehrere Millionen US$ Kupfererz aus der Grube geholt. Die staatliche CODELCO ist eines der profitabelsten Unternehmen der Welt, mit Kupfer werden immer noch (trotz schwankender Weltmarktpreise) mehr als die Hälfte aller chilenischen Exporterlöse erzielt. Für noch mindestens 30 Jahre reicht das Kupfererz in Chuqui, wie der Besucher erfreut zur Kenntnis nimmt  - nicht hört man allerdings, dass Chuqui eine der größten Dreckschleudern der Welt ist. Giftige Chemikalien wie Schwefelsäure und Arsen, die beim Reinigen des Rohkupfers freigesetzt werden, verseuchen das Grundwasser bis hinab nach Antofagasta. Unwillkürlich müssen wir an Potosí denken, und die Luftverschmutzung hier ist so eklatant, dass die chilenische Regierung beschlossen hat, sämtliche 15.000 Einwohner Chuquicamatas (das immerhin seit 1915 existiert) jetzt auf Druck der WHO nach Calama umzusiedeln. In zwei, drei Jahren wird kein einziger Arbeiter mehr näher als zehn Kilometer bei der Kupferhütte wohnen - die einst schönen Wohnhäuser an den breiten Strassen stehen zum Teil heute schon leer und warten mit eingeschlagenen Scheiben auf die Abrissbirne. Man brauche den Platz für Abraum und die Vergrößerung der Grube, heißt es offiziell. Doch Chuquicamata hinterlässt echt apokalyptische Gefühle; selten entstehen Geisterstädte aus Gesundheits- und Umweltgründen.

Geiserstädte gibt es eine Menge in Nordchile. Bald sind wir wieder auf dem Trans-Atacama-Highway und gehen die 220 Kilometer nach Antofagasta an. Warum jedoch müssen selbst moderne Karten auf diesem Wegstück eine dichte Kette von Siedlungen ausweisen? Zum Glück sind wir wie immer gut über unsere Wegstrecke informiert und wissen somit, dass es sich bei nahezu allen diesen "Oficinas" um ehemalige Salpeterstädte handelt, die zum Teil schon Mitte des 19. Jahrhunderts aufgegeben wurden. Die Lehmziegelbauten sind längst zu Ruinen verfallen: Oficina Curicó, Oficina Anibal Pinto, Oficina Prat, Oficina Edwards.... Das Städtchen Pampa Union hatte gar 5000 Einwohner, einen Bahnhof, eine Kirche, diverse Restaurants, eine Ladenstraße und einen Puff. Gegen 1930 zogen die letzten Bewohner weg und nahmen alles Verwertbare mit. Müll liegt heute in den Straßen, die Häuser sind ohne Dach, Reste der Wandfarben und Reklameaufschriften jedoch noch zu erkennen. In den fensterlosen Restaurants wird nur noch heißer Sand serviert, vom ständig heulenden Wüstenwind.

Pampa Union

Salpeter (auch Nitrat genannt), der im mineralreichen Boden der Atacama praktisch unendlich zur Verfügung steht, war früher ein wesentlicher Bestandteil des Schießpulvers. Grund genug für Chile, 1878 den sogenannten "Salpeterkrieg" vom Zaun zu brechen und das damals bolivianische Antofagasta samt Umgebung zu annektieren. Bolivien verlor dabei seinen einzigen Zugang zum Meer - noch heute gedenken die Bolivianer dieser nationalen Katastrophe durch einen "Tag des Meeres".

Der erste Weltkrieg mit seinem Sprengstoffhunger verschaffte Chile dann einen beispiellosen wirtschaftlichen Höhenflug. Dies war auch die Stunde der letzten großen Segelschiffe, der Windjammer, die das unersetzliche Nitrat von Antofagasta (oder von Iquique, weiter im Norden) in rund drei Monaten um das gefürchtete Kap Hoorn nach Europa transportierten. Pamir, Passat und Preußen, die drei berühmten P-Liner, werden immer mit der Epoche der Salpeterschifffahrt verbunden bleiben. Doch dann erfand Deutschland, bislang größter Abnehmer, die synthetische Herstellung des Nitrats. Als Folge musste die Förderung in Chile drastisch zurückgeschraubt werden; Fabriken und Arbeitersiedlungen verfielen, Eisenbahngleise und Verladeeinrichtungen verschwanden unter Sand und Staub. Nur an wenigen Stellen in der Atacama wird heute noch Salpeter abgebaut. In bescheidenem Rahmen dient er als Dünger und als Grundstoff für die Jodgewinnung.

Eisenbahnromantik in Baquedano

Nur zwei winzige Dörfer auf dem ganzen langen Streifen von Calama nach Antofagasta sind noch nicht von allen guten Geistern (sprich: Bewohnern) verlassen, obwohl sie mit ihren windgegerbten und sandgestrahlten Holzhäusern ganz danach aussehen. In Sierra Gorda gibt es immerhin einen kleinen Laden, in Baquedano ein paar Fernfahrerkneipen - und einen verlassenen Bahnhof, komplett mit Bahnbetriebswerk, Drehscheibe und Ringlokschuppen. Darin stehen noch sechs Dampfloks und ein paar halbverfallene Waggons herum, rostig und mit Staub überzogen, wie man sie vor fünfzig Jahren hat stehen lassen. Fast könnte man meinen, gleich kommt Charles Bronson mit der Mundharmonika um die Ecke und spielt das "Lied vom Tod". Jeder Eisenbahnfan muss fast ausflippen bei diesem Bild - Bahn- und Westernromantik pur! Doch leider gibt es nirgends ein Hospedaje oder eine sonstige Einrichtung, wo der müde Reiseradler sein Haupt hinbetten könnte. Jetzt wird es langsam Zeit für unser Zelt; in Peru und Bolivien hätten wir uns das nicht getraut, aber in Chile ist Zelten kein Problem. Und ohne eine gemütliche Nylonhütte ist Atacama-Biking schlicht nicht möglich. Nach 110 Kilometern werden wir bei der Copec-Tankstelle Carmen Alto fündig. Hier gibt es Wasser, Toilette und eine Snackbar, dazu eine schöne Windschutzmauer. Schnell steht das Zelt, gut abgespannt. 13.00 Uhr ist es jetzt, und schon wieder bläst es wie verrückt.

Noch oft werden wir in nächster Zeit die windigen Nachmittage im Zelt oder in kleinen Raststätten verbringen - heute aber lockt in nur zwei Kilometern Entfernung ein Highlight ganz besonderer Güte: "Oficina Chacabuco", als Salpeterfabrik natürlich auch längst aufgegeben, aber als historisches Erbe Chiles in einem frühen Verfallstadium konserviert und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

Schon von weitem hatte der riesige Fabrikschornstein unsere Aufmerksamkeit erregt. Fast hätte man aus der Distanz meinen können, Chacabuco sei noch in Betrieb. Ein Hinweisschild lotst die Interessenten von der guten Asphaltstraße auf eine schlechte Piste, entlang von Stacheldrahtzäunen und Schildern, die vor Tretminen warnen. Warum das denn, um Gottes Willen - was gibt es bei solch altem Gerümpel groß zu bewachen? Dann ein hölzernes Tor, alles verrammelt. Wir betätigen eine Klingel, warten eine Weile und werden tatsächlich eingelassen.

Chacabuco gehört heute dem chilenischen Staat; für den Erhalt zeigt sich aber das deutsche Goethe-Institut mitverantwortlich, das sich vor allem bei der geschichtlichen Dokumentation engagiert hat. Die Seele des Ladens jedoch ist Roberto Zaldivar Varela, ein 75-jähriger Veteran, der hier als eine Art Caretaker in einer notdürftig hergerichteten Arbeiterwohnung haust. Und der verpasst uns, seinen einzigen Gästen heute, jetzt eine ausgezeichnete Führung.

Roberto Zaldivar Varela

Mehr als 7000 Personen, so hören wir, haben in Chacabuco einst gelebt und gearbeitet. Nur von 1924 bis 1940 war die Fabrik in Betrieb, in der absolut späten Salpeterphase also. Damals waren die Arbeitsbedingungen schon wesentlich menschlicher als im 19. Jahrhundert, beispielsweise hatten die Arbeiter schon (wenn auch wenig) Urlaub und wurden nicht mehr, wie in der Gründerzeit üblich, mit sogenannten Fichas ausgezahlt. Das waren spezielle Münzen, die nur wieder in der Salpeter-Oficina ausgegeben werden konnten - die Gewähr dafür, dass die Arbeiter ihren Lohn gleich wieder in den oft überteuerten Läden des Arbeitgebers ablieferten. Nein, Chacabuco war modern, es gab ein gut ausgestattetes Krankenhaus, Sozialräume, einen kleinen Park mit Bäumen und Ruhebänken, Tennisplätze und sogar ein Theater. Letzteres ist zwar heute recht baufällig, wird aber gerade restauriert, und einmal jährlich gibt es eine Vorstellung unter der Ägide des Goethe-Instituts - das muss draußen in der Wüste und vor der Kulisse der halbverfallenen Fabrikanlangen ein großartiges Schauspiel sein.

Besonders interessant sind naturgemäß die Fabrikationshallen. Hier herrscht heute heillose Unordnung - wie die Salpeterherstellung genau funktioniert, haben wir leider nicht begriffen. Don Roberto kann auch nur Spanisch, und das wesentlich besser und vor allem schneller als wir. Staunend stehen wir vor einem Sammelsurium von Streben, Rohren und Kesseln, alles wirr und von einer zentimeterhohen Staubschicht bedeckt. Im Kraftwerk hatte wohl jemand mit der Demontage der Generatoren begonnen, Schrauben gelöst und Verkleidungen abgebaut. Als hätte ihn ein böser Geist vertrieben, liegen überall abmontierte Teile und rostige Werkzeuge am Boden - wohl seit über 50 Jahren, dazwischen Müll, Dreck und leere Flaschen. Der stürmische Wind rüttelt an Wellblechverkleidungen, nutzlos gewordenen Eisentüren und pfeift durch die Reinigungsklappe des Schornsteins. Fast ein Weltuntergangsszenario; Schauer laufen einem über den Rücken. Doch mit etwas Fantasie kann man sich ausmalen, wie damals die Maschinen gedröhnt, Zahnräder rotiert und Fördebänder Massen an Schüttgut herangeschafft haben - und das nur für den Tod; ohne Salpeter kein Krieg....

Chacabuco, im Kraftwerk

Dann erzählt uns Don Roberto, und jetzt wird es erst richtig schauerlich, dass zu Zeiten Pinochets (von 1973 bis '74) hier sogar ein Konzentrationslager war, komplett mit Folterkammern und Todeszelle - er selbst war damals einer der Insassen! Jetzt wissen wir, warum Teile des Geländes immer noch vermint sind! Leider verstehen wir nicht alles, jammerschade, da reicht unser Volkshochschul-Spanisch einfach nicht aus. Don Roberto war wohl ein glühender Anhänger Salvador Allendes, des 1970 legal gewählten sozialistischen Präsidenten, der die Landreform vorantrieb, Banken und Teile der Industrie enteignete und (übrigens mit Zustimmung sämtlicher Oppositionsparteien) die Kupferminen verstaatlichte. Interventionen der USA, die daraufhin mit Hilfe der CIA an den internationalen Börsen gegen den Kupferpreis spekulierten, die ganze Welt zum Handelsembargo aufriefen und etliche Millionen US$ zur Destabilisierung der chilenischen Wirtschaft einsetzten, ließen Allende letztendlich scheitern (man kennt diese Spielchen ja von Cuba und Nicaragua) - die Folge war Pinochets Militärputsch 1973 sowie ein jahrelanger gnadenloser Terror gegen Allendes Anhänger. Zehntausende wurden in diesen trüben Zeiten ohne Verfahren verurteilt, Tausende getötet und in Massengräbern verscharrt. Lange brauchte Chile, um diese schlimme Vergangenheit aufzuarbeiten.

Als sich Pinochet (schon nach seiner erzwungenen Abdankung) Ende der 90er-Jahre in England operieren lassen wollte, hat Don Roberto aus allen Rohren (Zeitung, Radio-Interviews, Fernsehauftritte) gegen die Briten geschossen, die Pinochet nicht an ein internationales Gericht ausliefern wollten. "In England habe ich absolut keine Freunde", meint Don Roberto schmunzelnd. Später gelang es in Chile sogar, Pinochets parlamentarische Immunität aufzuheben und offiziell Anklage gegen ihn zu erheben. Der Prozess musste zwar leider auf Antrag der Verteidigung eingestellt werden - wegen Altersdemenz des greisen Ex-Diktators. Aber Chile ist heute unzweifelhaft und erfolgreich zur Demokratie zurückgekehrt, das verlangt wirklich allen Respekt.

Wie gesagt, jammerschade, dass wir nicht alles verstehen, was Don Roberto uns mitzuteilen hat. Der alte Einsiedler gilt international als absolute Autorität in Sachen Pinochet und chilenische Konzentrationslager, hat allerlei Schriften veröffentlicht und ist ein unschätzbarer Zeitzeuge. Politik ist einfach immer spannend! Dann kämpfen wir uns gegen den Sturm zurück zu unserem Tankstellen-Nachtlager.

Carmen Alto

Schon kurz nach Anbruch der Morgendämmerung rollen wir am nächsten Tag das Zelt ein und sind um sieben auf der Straße, recht zügig zunächst mit etwas Rückenwind. Heute schlägt der Wind aber schon vor zehn um - wahrscheinlich kennt er die Uhr nicht. Fast so schlimm wie vor Calama ist es wieder, unglaublich! Wir treten rein, was das Zeug hält, durch die immer noch völlig vegetationslose Wüste, knallblauer Himmel über graubraunem Steinschotter. Die einzigen farbigen Tupfer sind unsere bunten Trikots - und die Relikte des Wahlkampfs um den "Alcalde 04". Ein gewisser Carlos Lopez will Bürgermeister werden und wirbt mit gelber Aufschrift auf jedem größeren Stein oder auf den Pumpstationen der nahen Wasserpipeline. In Blau kämpft auch sein Konkurrent Arraya. Wer fährt schon eine Stunde aus dem Dorf hinaus und beschließt hier, wen er wählt? Blau, Gelb, graubrauner Sand - wir treten weiter, monoton, und wechseln uns alle paar Kilometer in der Führungsarbeit ab. Wenigstens haben wir jetzt immer genügend Wasser dabei.

Antofagasta kündigt sich schon lange an, bevor die kahlen Berge den Blick auf die Stadt freigeben. Werbetafeln stehen Spalier, großflächig wie Einzimmer-Apartments, mit stählernen Seilen festgezurrt gegen die Gewalt des Orkans. Handys sollen wir kaufen, die Limo Bilz Pap probieren (ob sie wohl so schmeckt wie sie heißt?) oder einen Freightliner-Lkw leasen. Dann senkt sich die Straße, endlich, hinab zum lange (seit kurz hinter Lima / Peru) entbehrten Meer, drei Prozent Gefälle, vier - doch der Sturm tost durch das trockene Tal wie durch eine Düse. Wir brauchen bergab die Berguntersetzung, kaum zu glauben sowas! Erst als das Gefälle zehn und dann zwölf Prozent erreicht, rollt es ein bisschen. Über breite Ausfallstraßen laufen wir in der ehemals bolivianischen Hafenstadt ein, biegen in spitzem Winkel ab und erfreuen uns plötzlich an Rückenwind sowie an blühenden Vorgärten und gepflegten Grünanlagen. Schnell finden wir ein kleines, preiswertes Hotel, werfen die verschwitzten Radklamotten in eine Ecke, duschen heiß und ausführlich und gehen Kassler mit Sauerkraut essen. Atacama-Biker's Alltag, sozusagen.

Auch heute noch, lange nach Beendigung der Salpeter-Epoche, ist Antofagasta einer der wichtigsten Häfen Chiles. Vor allem Kupfer wird hier verschifft, angeliefert per Bahn aus Chuqui und La Escondida. Romantisch liegt der alte Bahnhof zwischen Strandpromenade und Stadtzentrum, picobello renoviert. Doch leider dient er nur noch als Verwaltungsgebäude der Bahngesellschaft Ferronord - früher konnte man von hier täglich mit der Bahn nach La Paz fahren, heute gibt es nur noch einmal wöchentlich einen Zug von Calama nach Oruro. Schade, einfach - irgendwo wollen wir in Chile unbedingt mal die Bahn benutzen, in dem Land, wo schon 1851 Südamerikas erste Eisenbahnlinie in Betrieb genommen wurde. Doch momentan freuen wir uns auch, endlich mal wieder am Meer zu sein, machen eine lange Wanderung am Strand entlang, fahren mit dem Rad zur Portada hinaus (einem frei im Pazifik stehenden Felsenbogen und Antofagastas Wahrzeichen), blicken im Hafen hinüber zur historischen Salpetermole und schlendern über den quirligen Fischmarkt. Wir flanieren durch schöne Ladenstraßen und vorbei an hübschen Kolonialbauten, auch wenn letztere schon mal bessere Zeiten gesehen haben. Tut gut, mal wieder ein bisschen Großstadtluft! Dann geht es weiter, hinauf wieder auf knapp 1000 Höhenmeter, zurück zur Panamericana, in Chile "Ruta 5" genannt, und weiter nach Süden.

Antofagasta

Noch rund 800 Atacama-Kilometer stehen an, davon gut 500 von der gehabten vegetationslosen Sorte. Kilometertafeln unterteilen das Nichts in wenigstens greifbare Portionen. 1400-und-ein-paar-Zerquetschte sind es bei Antofagasta, irgendwann im fernen Santiago (auf der Plaza Baquedano) wartet die Null. Eine schier unglaubliche Entfernung angesichts der landschaftlichen Gegebenheiten. Links Sand, rechts Schotter, ein paar kahle Felsen am Horizont. Nach 90 Kilometern (!) kommt die erste Möglichkeit zum Wasser und Verpflegung Fassen, eine so genannte Posada, ein Bretter-Restaurant für Fernfahrer und Minenarbeiter, die weit draußen im Outback nach Zink oder Kupfer grubeln. Zum Essen gibt es "Menü" und zum Trinken "Soda", Limo des Tages, Auswahl Null. Rundum stehen Schrottautos, alte Bagger und Hühnerkäfige, aber man darf bei solchen Etablissements immer zelten - keine Frage, im Stich lassen sie dich hier nicht, niemand, so wie es schon in Wyoming und Arizona früher das ungeschriebene "Gesetz der Wildnis" bestimmte. Und am nächsten Morgen haben sämtliche zehn bis zwölf halbwilden und frei kreisenden Köter (wo die in der Wüste wohl herkommen?) dein Zelt markiert. Diese Viecher sind eine echte Plage! Gar nicht so einfach, hier im furztrockenen chilenischen Norden immer das nötige Wasser zum Reinigen aufzutreiben. Wasser ist kostbar; die Posadas werden nur alle paar Tage von Tankwagen beliefert.

Auf solchen eintönigen Strecken muss man das Hirn mit irgendetwas beschäftigen, sonst stirbt es ab. Beispielsweise kann man das Kleine und Große Einmaleins vor- und rückwärts herunterbeten. Oder versuchen, sich zu erinnern, welche Stücke alle auf der Beatles-Platte "Abbey Road" drauf sind. In México haben wir bei solchen Gelegenheiten immer die Coyoten gezählt. Das geht hier nicht - es gibt keine, denen ist es hier zu trocken. Plötzlich sagt Sybille: "Hörst du - hier hat es exakt dieselben Zikaden wie in der Provence!" Tatsächlich: "Zirpzirpzirpzirpzirp!" - Unglaublich; wir halten an, um uns das genauer anzuhören. Plötzlich sind alle Zikaden still. Seltsam, weiter - die Zikaden stimmen ihr Gegrille wieder an. Da fällt es uns wie Schuppen vom Kopf: Das ist das Klagelied der im Sandsturm trockengelaufenen Schaltwerksrollen! Der Zikado Shimano, sozusagen. Ein paar Tropfen Teflonöl schaffen Abhilfe. Weiter - und dazu der Wind.

Trotz allem: Das ist Radeln in Reinkultur! Seit Chile macht Panamericana Biking wieder Spaß. Die Menschen sind freundlich, die Autofahrer rücksichtsvoll. Nur einmal überholt uns ein Trucker recht knapp und zwingt uns ins Bankett (vielleicht ein bolivianischer Gastarbeiter?). Selbst bei gleichförmiger Landschaft wird es nicht langweilig; das Radfahren reduziert sich auf das Wesentliche: aufs Vorwärtskommen.

Biker's Traum: Die nächste Posada

Das Salz in der Suppe sind kleine Zivilisationsinseln und allerlei Überraschungen, vielleicht am besten wiedergegeben durch die stichwortartigen Eintragungen in unserem Reisetagebuch. Ruta 5, Nordchile, auszugsweise:

AGUA VERDE: Copec-Tankstelle und Schrottplatz. Fast wieder auf 2000 Höhenmetern. 53 km bis zur nächsten Kneipe. Dann 110 km bis Chañaral. Tolle, kurvenreiche Abfahrt. Berge sehen durch Kohleflöze aus wie kariert. Nur noch 1000 km bis Santiago - CHAÑARAL: Bärbeißiger Ort aus gammeligen Holzhäusern. Schönes Hotel im Bauhaus-Stil (!) mit Bougainvillea im Hof. Abendessen Ledersteak mit nur sehr zögerlich angeliefertem Bier. Im Fernsehen: George Bush wiedergewählt. Dreifachen Schnaps gebraucht. - Zum ersten Mal seit Antofagasta (400 km) wieder am Meer; längere Zeit an der Küste entlang. Auf und Ab, gegen Mittag stürmischer Gegenwind. Strandcamping ohne Wasser und alle Versorgungseinrichtungen. Notfall-Raviolidose aufgemacht. - Rechtwinklig weg von der Küste, plötzlich voller Rückenwind. COPIAPO nette Stadt in grüner Oase. Fehlenden Fensterladen im Hotel Montecatini durch ein Handtuch ersetzt. Bett hängt durch, geschlafen wie ein Taschenmesser. Verstaubtes Eisenbahnmuseum im halbverfallenen Bahnhof. - Nach 70 Gegenwind-Kilometern Zeltübernachtung bei der POSADA PAJARITOS. Zu trinken gibt's nur Cola, man wartet auf den Wasser-Tankwagen. Nette Wirtin Cristina, früher Sekretärin in Santiago, dann desertiert und in die Wüste abgehauen. Lkw-Motoren dröhnen die ganze Nacht. - VALLENAR: Endlich wieder ein vernünftiges Hotelzimmer! Rigatoni mit Thunfisch-Tomatensoße gekocht, Wirtin schenkt uns eine Flasche hiesigen Dessertwein. - Ab sofort wieder ein bisschen vertrocknetes Grünzeug in der Wüste. Übernachtung POSADA LA FRONTERA in kleiner Cabaña ohne Wasser (Tankwagen schon zwei Tage überfällig). Klo somit nicht zu benutzen. Deshalb Prärieschiss mit tollem Sonnenuntergang und fantastischem Blick auf das Observatorium La Silla.

Soweit unser Tagebuch. Langsam (so kurz vor La Serena) zeichnet sich ab, dass wir das Gröbste hinter uns haben. Der Wind beispielsweise ist jetzt immer weniger ein Thema für uns. Vor allem, wenn wir ein Stück landeinwärts dahinradeln, nimmt ihm die Küstenkette die Spitze; erst drunten im Süden wird es wieder richtig stürmisch werden. Vegetationsmäßig sind wir zwar immer noch in der Wüste, aber wir haben Glück und dürfen das seltene Schauspiel der Atacama-Blüte genießen. Vor ein paar Wochen soll es hier mehrere Stunden geregnet haben, wie wir hören - das kommt im Schnitt nur alle vier, fünf Jahre vor. Dann aber überzieht sich die Wüste mit einem bunten Blumenteppich, viele Pflanzensamen können bis zu zehn Jahre im Boden schlummern, um dann in einer wahren Farbenorgie zu explodieren. Leider liegt der Regen schon eine ordentliche Weile zurück, die Blümchen sind bereits wieder am Verwelken, aber man kann sich den Zauber dieses Naturschauspiels noch recht gut vorstellen.

Seltenes Schauspiel: Die Wüste blüht

Wo es nur sehr wenig regnet, ist die Luft natürlich besonders trocken und somit klar. Die Atacama gilt, wie schon erwähnt, als trockenster Fleck der Welt. Der allabendlich zu sehende Sternenhimmel ist eine wahre Pracht. Kein Wunder, dass sich ausgerechnet hier einige der weltweit modernsten Observatorien angesiedelt haben. Zwischen 2000 und 2500 Höhenmetern meistens; die schützende Inversionsschicht des Küstennebels auf etwa 1000 Metern Höhe hält zudem Streulicht und alle störenden Staubpartikel fern. La Silla wird von einer europäischen Forschungsgemeinschaft unterhalten, El Tololo ist ein Gemeinschaftsprojekt amerikanischer und chilenischer Universitäten. Und auf dem Cerro Pachon entsteht derzeit ein neues Großprojekt, das 8,1-Meter-Spiegelteleskop "Gemini", mit dem man theoretisch einen Mann auf dem Mond erkennen könnte. Leider ist es verdammt schwer, Einlass  in eine dieser Hightech-Einrichtungen zu erhalten, nur ausgewählte Besuchergruppen werden eingelassen und man muss sich schon monatelang voranmelden. Welcher Long-Distance-Biker kann das schon? So bleibt es in unserem Fall beim sehnsüchtigen Blick auf La Silla aus der Distanz. Aber zum Glück gibt es das kleine öffentliche Observatorium Mamalluca im Valle Elqui, ganz in der Nähe. Auch das kleine 12-Zoll-Teleskop dort kann einem, anlässlich der natürlichen Gegebenheiten, noch echt das Staunen lehren. Wir erhalten vom Kommunal-Astronom der Gemeinde Vicuña eine umfassende Führung durch den südlichen Sternenhimmel, vom Mond über Jupiter, das Kreuz des Südens, Alpha Centauri, den Andromedanebel und die Magellanschen Wolken bis hin zu den Sternbildern, die die Inkas vor 500 Jahren sahen. Am Ende ist es nachts um halb eins und uns schwirrt der Kopf; wir sehen nur noch Sternlein. Aber der Eindruck dieser Führung bleibt noch lange haften; das war sicher eines unserer interessantesten Erlebnisse in Nordchile.

Vor La Serena: Endlich wieder Grün!

La Serena erreichen wir durch eine wunderschöne Lindenallee (!), links und rechts erstrecken sich gepflegte Rasenflächen und blühende Büsche. Wir sind total happy, endlich der Wüste entronnen zu sein und bleiben gleich fünf Tage. Die Stadt kommt uns vor wie Baden-Baden am Meer; es ist einfach unheimlich schön, mal wieder unter Platanen durch hübsche Parks zu flanieren oder abends unter romantischen Straßenlaternen an klassizistischer Architektur entlang zu schlendern. Auch eine endlos lange Strandpromenade gibt es mit Straßencafés, wo man ganze Tage durchhängen könnte. Dazu müssen die Fahrräder dringend auf Vordermann gebracht werden, brauchen neue Ketten und eine General-Überholung.

Wohl der Hauptgrund für unseren langen Aufenthalt hier ist aber das gemütliche Hostal "El Punto", das den deutschen Aussteigern Jens und Katja gehört. Die beiden haben sich hier vor zwei Jahren ein altes Haus gekauft (eine Ruine, wie Jens meint), dann ein Jahr gewerkelt und gebastelt. Seit einem Jahr läuft der Laden und alle elf Zimmer sind fast ständig ausgebucht. Ehrlich, wir werden fast ein bisschen neidisch - wären wir handwerklich begabter, wir hätten glatt das Nachbaranwesen erworben und es den beiden nachgemacht. Das ist hier die Chile-Ausgabe des Hostals "Home Peru" in Lima, wo es uns auch schon supergut gefallen hatte. Es gibt ein paar nette Innenhöfe mit Sitzgruppen und Tischen; dort stellen wir abends unseren Gaskocher auf und zelebrieren fantastische Spaghetti-Candlelight-Dinners. Und immer sind eine Menge interessanter Leute da. Der sympatische Belgier Rudi zum Beispiel, aus Antwerpen, früherer Weltumradler, ein Biker der harten Sorte. Er ist gerade drei Monate in den Andenländern unterwegs und fährt grundsätzlich, wenn möglich, auf entlegenen Nebenstraßen ohne Asphalt. Die Strecke von Uyuni nach San Pedro, wo wir gerne auf Leos Landcruiser umgestiegen sind, war ihm zu einfach; er hat noch ein paar abgelegene, kaum begangene Pässe und Saumpfade in seine Tour mit eingebaut. Wir wundern uns über Rudis bolzengeraden, besenstielartigen Lenker mit den zwei Billighörnchen, der gar nicht zu seinem sonst sehr guten Fahrrad passen will. Ob er nicht manchmal auch ein paar komfortablere Griffpositionen bevorzuge, fragen wir. Sicher, meint Rudi und grinst, aber kürzlich habe er in absolut unwegsamer Situation auf einen Maultiertransport zurückgreifen müssen, das Muli sei mit seinem Fahrrad zwischen zwei Felsen eingerastet und habe seinen guten Yumalenker verbogen. Tja, da könnte so mancher Radhersteller noch was lernen, für seine Test-Abteilung.

Knapp 500 Kilometer sind es jetzt noch bis Santiago, die Landschaft wird immer grüner und auch entsprechend mehr besiedelt; die Ruta 5 mutiert zur Autobahn. Auf dem Seitenstreifen kommen wir zügig vorwärts, nur gebremst durch hin und wieder recht hügelige Geländeformen. Wenn irgend möglich verlassen wir die Autopista und benützen die Küstenstraße, die leider nicht ganz durchgeht und uns immer wieder zur Hauptstraße zurückbringt. Schroff und unwegsam ist die chilenische Küste von oben bis unten, nur in geschützten Buchten haben sich kleine, weltvergessene Dörfer ansiedeln können. Darunter sind einige wunderschöne, alte Badeorte von morbidem Charme. Tongoy beispielsweise war in den 50er-Jahren en vogue, aus dieser Zeit stammen noch viele abgewrackte Strand- und Ferienhäuser mit teils toller Architektur, die mehrheitlich zu verkaufen sind.

Papudo

Papudo erlebte seine Blüte in den 20er-Jahren, als die Eisenbahnlinie hierher fertig wurde. Damals war das Städtchen so eine Art chilenisches Biarritz; ein paar prächtige alte Chalets reicher Bürger und verspielte Hotels zeugen noch von jener Epoche, fast wie in mondänen Schwarzwald-Kurorten. Doch die Bahnlinie ist längst stillgelegt und Blocks mit gesichtslosen Ferienapartments haben das Terrain übernommen. Die Küstenstraße, wenn vorhanden, ist ein echtes Juwel und erinnert entfernt an die Basse Corniche zwischen Nizza und Menton. Euphorisch kurbeln wir um enge Kurven, bei Zapallar kommen wir sogar durch dichte Wälder (die ersten seit Costa Rica!) - wenn die Straße nicht am Meer entlang laufen würde, könnten wir meinen, im Südschwarzwald zu sein. Die Feriendomizile der Santiagoer Oberschicht sind hier zu bewundern, eines schöner als das andere, dazwischen stehen ein paar Hotels, da könnte man sicher für eine Woche Halbpension locker unser Monatseinkommen hinblättern. Und in Viña del Mar, dem Badeort Chiles, bekannt auch als Garten- und Geschäftsstadt, verbringen jährlich rund zwei Millionen Chilenen und Argentinier ihren Urlaub. Noch 120 Autobahn-Kilometer bis Santiago.

Von Viña del Mar machen wir einen eintägigen Abstecher nach Valparaiso, ganz bequem per S-Bahn, knapp eine halbe Stunde Fahrzeit. Valparaiso, früher Südamerikas wichtigste Hafenstadt, zieht sich wie ein Amphitheater die steilen Uferhänge hinauf und ist für uns schlicht die schönste Stadt Chiles. Die Hochlagen werden durch 16 uralte Schrägaufzüge erschlossen, teilweise über 150 Jahre alt, jeder für sich ein Technikdenkmal, und von überall sieht man den riesigen Containerhafen und die an den Molen wartenden Schiffe. Nach Eröffnung des Panamakanals 1914 wäre Valparaiso fast in der Versenkung verschwunden - die Frachtschiffe mussten nicht mehr Kap Hoorn umrunden und hier Station machen, sondern konnten gleich von Panama nordwärts Richtung US-amerikanische Westküste abbiegen, aber seit Chiles exportorientierte Wirtschaft ausgangs der 80er-Jahre zu boomen begonnen hat und zudem der Panamakanal für moderne Containerfrachter zu klein geworden ist, gelangt die Stadt zu ihrer alten Bedeutung zurück. Hafenstädte haben immer ihren speziellen Charme, aber Valparaiso hat den ganz besonders: In den "frachtarmen" Zeiten haben sich viele Künstler hier niedergelassen und die alten Häuser mit viel Liebe und noch mehr Farbe renoviert - Künstler- und Hafenflair ergibt zusammen eine faszinierende Mischung. Wir verbringen fast den ganzen Tag mit Aufzugfahren und Im-Straßencafé-Sitzen. Auch eine faszinierende Mischung.

Bunte Häuser in Valparaiso Schrägaufzug

Dann schwingen wir uns wieder in den Sattel, Richtung Santiago. Egal ob von Viña oder von Valparaiso, wir müssen über die Küstenkordillere, und die hat es in sich. 400 Höhenmeter auf fünf Kilometer, das macht 8% Durchschnittssteigung, das Ganze in steilen Serpentinen. Bald sind wir wieder auf der Autobahn, Ruta 68 diesmal, eine Alternative gibt es im hügeligen, unwegsamen Gelände nicht. Dabei sind zwei Tunnel zu durchradeln - ob die Autobahnpolizei das zulässt? Zunächst radeln wir durch die schönen Weinanbaugebiete des Valle Casablanca, doch plötzlich kommt die Zahlstelle für den Tunel Zapata, daneben ein Polizeiposten. Wir schleichen uns hinter der Hütte vorbei, gehen zügig die Auffahrt zum Tunneleingang an - und werden trotzdem kurz vor dem Loch abgewunken. Doch die Straßen-Servicegesellschaft stellt eigens einen Pickup für uns ab, mit dem wir recht kommod den Tunnel durchqueren. Anders sei es zu gefährlich, hören wir. Langsam wird uns klar, warum die Chilenen als die "Preußen Südamerikas" gelten. Der Tunnel ist taghell beleuchtet, und innen gibt es einen Super Seitenstreifen. So gefahrlos wie dieser Tunnel war kein Meter Fahrstrecke in ganz Peru oder gar in Bolivien. Okay, uns soll's recht sein - man hat halt seine Vorschriften. Beim nächsten Tunnel dann gibt es gleich am Eingang ein Radler-Telefon, mit dem man seinen Lift anfordern kann. Die Jungs haben recht viel zu tun heute; es ist Sonntag und ganze Rennradgruppen sind unterwegs. Schöner Service, muss man sagen; es fehlen eigentlich nur noch ein paar Getränke an Bord. Dann sausen wir bergab, hinunter ins fruchtbare Valle Central.

An klaren Tagen muss die Anfahrt nach Santiago wunderschön sein. Bald sehen wir das Häusermeer im satten Grün vor uns, Hochhäuser ragen heraus; die Eisriesen der Andenkette dahinter lassen sich jedoch nur erahnen, da verschleiert vom Smog. Wohlweislich nähern wir uns dem Moloch sonntags; Santiagos werktäglicher Stadtverkehr ist berüchtigt. Irgendwann mündet die Autobahn in die breite Avenida O'Higgins, die uns auf unglaublich schlechtem Straßenbelag ins Zentrum bringt. Doch der gepflegte, parkartige Mittelstreifen erfreut das Auge, riesige Alleebäume vermitteln einen Hauch von Paris, prächtige Bauten liegen am Weg, der Palacio de la Moneda, der alte Hauptbahnhof - obwohl viele historische Gebäude bei den zahlreichen Erdbeben der Vergangenheit zerstört wurden und trotz seiner typisch lateinamerikanischen Verkehrsprobleme ist Santiago eine schöne Stadt, man kann's nicht anders sagen. Wir mieten uns ein im Hostal Amazonas  in der Avenida Vicuña Mackenna, einem tollen Patrizierhaus aus den 20er-Jahren, lange Jahre Domizil einer renommierten Architektenfamilie. Seit einem Jahr ist es eine charmante Backpacker-Herberge. Wahrscheinlich hat der letzte Architekt weinend und berufsunfähig das Haus verlassen - bei dem Verkehrslärm zu arbeiten ist schlicht unmöglich, und auch Schlafen geht nur mit Ohrstöpseln und nur so ca. von eins bis drei. Oder als müder Reiseradler, versteht sich. Wir halten es hier einige Tage aus; die zentrale Lage macht das wett.

Santiago: Blick vom Cerro San Cristobal

Mehr als fünf Millionen Menschen leben in Santiago, ein starkes Drittel aller Chilenen, und jährlich werden es noch einige Tausend mehr - die Stadt ist uneingeschränktes Zentrum Chiles, politische und kulturelle Hauptstadt sowie Keimzelle des chilenischen Wirtschaftswunders. Es ist schon interessant, mit einem Café cortado im Straßencafé auf der Plaza de Armas zu sitzen und das urbane Leben an sich vorbei flanieren zu lassen. Geschäftsleute in Nadelstreifen, gelfrisierte Jungmanager, durchgestylte Sekretärinnen - in keiner Stadt südlich von Los Angeles (California) haben wir so viele Laptops, Handys und neue BMW, Daimler oder Lexus gesehen wie in Santiago. Aber es gibt auch die vom Wohlstand Ausgeschlossenen, Legionen von Straßenverkäufern zum Beispiel mit billigem Plastikkram (der Hit sind gerade Luftballons mit Propeller), Schuhputzer, Losverkäufer, Straßenmusikanten, Bettler. Dazwischen liest eine alte Hexe aus den Karten und aus der Kristallkugel - unzählige Passanten aller Schichten bleiben stehen und wollen was über ihre Zukunft wissen. Der Renner bei den Teenies ist gerade gemäßigter Kaufhaus-Punk. Stolze Eltern lassen derweil ihre Kleinen im Anzug oder im Rüschenkleid auf dem Plüschpferd vor der Kathedrale fotografieren. Rentner sitzen auf den Bänken, diskutierend oder in ihre Zeitungen vertieft (erst kürzlich war George Bush hier, im Rahmen des APEC-Treffens, es gab heftige Demonstrationen und Tränengas-Einsätze der Polizei), und ein selbsternannter Wanderprediger prophezeit den Untergang der Welt in naher Zukunft, auf jeden Fall noch vor Weihnachten. Aus den spiegelverglasten Shopping Malls draußen in Providencia und Las Condes, wo Läden à la Gucci, Lacoste oder Boss eher zu den billigen gehören, vermelden sie jetzt im Weihnachtsgeschäft Rekordumsätze. Der Nikolaus trägt derweil Kurzarm; Anfang Dezember hat es in Santiago 30 Grad und schönsten Sonnenschein; alle stöhnen über die Hitze.

Als kulturelles Zentrum ist Santiago natürlich auch eine Stadt der Museen, die in Südamerika ihresgleichen sucht - Museo Chileno de Arte Precolumbiano, Museo Historico Nacional, Museo de Bellas Artes, Naturkundemuseum, Raumfahrtmuseum - nun sind wir nicht gerade die Museums-Aficionados, aber das Eisenbahnmuseum in Quinta Normal interessiert uns natürlich schon! Eine tolle Anlage ist das, schön restaurierte Dampfloks und historische Waggons stehen in einem hübsch angelegten Park, etliche davon aus Deutschland übrigens (Chile war früher einer von Borsigs wichtigsten Kunden). Staunend stehen wir dort vor der faszinierenden, schweren Locomotora 3349 der Andenbahn, Mallet-Bauweise mit Zahnrad, hergestellt von Kitson-Meyer in Leeds / England, ein Wahnsinns-Teil! Damit fuhr man von 1911 bis 1971 schwere Güterzüge über die legendäre Steigungsstrecke von Los Andes nach Mendoza / Argentinien, über den 3100 Meter hohen Bermejopass. Seit den frühen 80er-Jahren ist die Scheitelstrecke leider stillgelegt - das muss eine der spektakulärsten Eisenbahnen der Welt gewesen sein! Auf jeden Fall müssen wir dort am Paso Bermejo, nach der Rückkehr von Feuerland in zwei Monaten, noch ein bisschen radeln und Eisenbahn-Archäologie betreiben, soviel steht fest.

Locomotora 3349

Im Gegensatz zu seiner musealen interessiert uns Santiago natürlich ganz speziell von seiner gastronomischen Seite. Sprich, es wird mal wieder Zeit für gutes, heimisches Futter. Der Turistel-Führer empfiehlt das Restaurant "Der Münchner", ein Stückchen außerhalb des Zentrums gelegen: Con excelente comida alemana y famosas parilladas con salchichas, carnes y laberkase. Hoffnungsfroh machen wir uns auf den Weg dorthin und finden das Etablissement gleich, ein hübsches Haus im Alpenstil, komplett mit Lüftlmalerei und nettem Biergarten. Erfreut treten wir ein und lassen die Karte kommen. Doch auf unsere Bestellung meint der Kellner (kein Mensch kann auch nur ein Wort Deutsch hier), ja, von Laberkase habe er schon gehört, aber hier im Restaurant habe er noch nie einen gesehen. Na dann, Grillwürstchen mit Kraut! Doch die Grillwürstchen kommen weder aus Nürnberg noch aus Thüringen, sondern aus der Plastikpackung im Supermarkt und wurden wohl für den Einsatz im Hotdog hergestellt. Gegrillt sind sie auch nicht, sondern nur in der Pfanne kurz erhitzt. Das Sauerkraut ist völlig daneben, und mit dem Kartoffelpüree könnte man Löcher in der Wand zuschmieren. Die ganze Kneipe ist eine echte Mogelpackung - warum sie wohl "Der Münchner" heißt? Vielleicht ist vor Jahren mal ein Münchner am Haus vorbeigelaufen. Reumütig greifen wir in Zukunft wieder auf das gute, alte "Bavaria" zurück.

Schon besser ist da der Besuch bei einem der vielen Weingüter draußen vor der Stadt. Wir machen einen schönen kleinen Radausflug zur renommierten Firma Concha y Toro draußen in Pirque, 25 Kilometer one way, eine der nobelsten Weinadressen Chiles. Staunend stehen wir vor einem schmiedeeisernen Tor gigantischen Ausmaßes, dahinter ein riesiger Park und ein tolles altes Herrenhaus, kurze Zeit später dann stehen wir im verschwitzten Radtrikot unter einer Schar erlesener Gäste in Sakko und Kostüm. Jeder Besucher erhält ein feines Weinglas mit eingraviertem Firmenemblem, dann zeigt man uns bei einer erstklassigen Führung die weitläufigen Weinkeller und wir degustieren eine Reihe edler Tropfen.

Weinprobe bei "Concha y Toro"

Zurück dann im Hostal Amazonas kochen wir ein gutes Pasta-Dinner und haben zum ersten Mal auf diesem Trip vernünftige Weingläser dazu - schmeckt so doch gleich ganz anders, der Cabernet Sauvignon, als aus unserem verbeulten Blechbecher. Gerne hätten wir die feinen Teile mitgenommen, aber Tourenradler müssen da leider mit gewissen Einschränkungen leben. So schenken wir die Gläser unserem netten Hostalchef, einem freundlichen, älteren Herrn - der macht fast einen Luftsprung vor Freude. Er öffnet seinen Schrank, drinnen stehen zehn exakt gleiche, alle mit der Aufschrift "Concha y Toro", von anderen Gästen zurückgelassen. Jetzt hat er ein komplettes Service und kann eine Party für zwölf Personen geben. Scheint doch ganz beliebt zu sein bei Backpackern, so eine kleine Weinführung.

Tags darauf treten wir wieder in die Pedale und verlassen Santiago wie wir gekommen sind, auf der Autobahn. In südlicher Richtung allerdings, wieder auf der Ruta 5, zunächst durch den ausladenden Industrie- und Gewerbegürtel der Stadt. Dann folgen die riesigen Weingärten von Concha y Toro und Konsorten, ausladende Obstplantagen, Erdbeerfelder - bis auf die jetzt im Dezember gerade reifen Erdbeeren (mampf!) und auf die beeindruckenden, fernen Andengipfel linker Hand eine eher ereignislose Gegend. Wir nutzen die nächsten Tage zum "Meilen machen", 260 Kilometer, Rancagua, Curicó, Talca. Dann wird es wieder Zeit für einen Sprung an die Küste, und zwar - jetzt endlich mal - mit der chilenischen Eisenbahn.

Talca liegt an der Schnellzugstrecke Santiago - Temuco, die gerade neu und ICE-ähnlich ausgebaut wird; ein ehrgeiziges Projekt. Hinter dem Bahnhof jedoch geht täglich dreimal eine altehrwürdige Schmalspurbahn ab, gut 100 Kilometer zum kleinen Seebad und Hafenstädtchen Constitución. Die haben wir schon lange auf der Rechnung, und so fragen wir mal am Fahrkartenschalter nach, zwecks zwei Personen einfach, und ob überhaupt möglich mit zwei Fahrrädern und Gepäck?

Zuerst heißt es, die Räder müssen zerlegt werden, Laufräder raus, Lenker quer, Kette abdecken und, und, und. Dazu haben wir nun überhaupt keine Lust, bestimmt geht dann wieder was kaputt wie bislang bei fast jedem Flugtransport. Dies tun wir auch gestenreich kund; mittlerweile steht fast das gesamte Bahnhofspersonal auf der Matte und kratzt sich ratlos am Kopf. Schließlich genehmigt uns der Bahnhofsvorsteher, komplett mit Operettenuniform und roter Mütze, höchstpersönlich den unzerlegten Transport; sehr freundlich. Wir bedanken uns höflich mit Kratzfuß und Bückling (Umgangsformen sind wichtig in Chile!), dann erwerben wir ein schönes Boleto für den Abendexpress (18.10 Uhr), 4 US$ / 2 pax, da kann man nix sagen. Dann begeben wir uns zuversichtlich zum Gleis 1A; es ist jetzt 15.30 Uhr.

Das Züglein nach Constitución

Unser Züglein steht schon da, ein hübscher alter Schienenbus mit zwei Waggons, sauber und neu lackiert. Gerade wird es außen und innen (!) mit dem Schlauch abgespritzt, doch sofort nach Abfluss der Wassermassen dürfen wir einsteigen mit unserem ganzen Geraffel, das Personal hilft sogar beim Einladen. Wir bringen die Räder am Ende des Zuges unter und das Gepäck in den dafür vorgesehenen Staufächern, dann machen wir es uns gemütlich und harren der Abfahrt.

Nach und nach beginnen immer mehr Passagiere hereinzuströmen. Kisten und Kartons werden eingeladen, bald ist fast jeder Platz besetzt. Das Bahnpersonal beratschlagt, was man jetzt tun könne - dann wird noch ein alter Waggon vom Nebengleis hinten angehängt, ein uraltes, abgewetztes Teil, das wir zunächst für Schrott gehalten hatten.

Da unsere Räder jetzt den Durchgang in den hinteren Waggon blockieren, müssen wir in diesen umziehen. Glücklicherweise haben wir dort genügend Platz und können unser Gepäck auf eine zerschlissene Sitzgruppe stellen, denn das Gepäckfach ist recht versifft und ölverschmiert. Dann geht es unter kräftigem Gehupe auch schon los, rumpeldipumpel, der alte Gammelwagen mit seinen ausgeleierten Stoßdämpfern schlägt fast so, als wolle er aus den Schienen springen, sodass wir alles festhalten und die Fahrräder mit Expanderriemen sichern müssen.

Alles festhalten!

Sobald sich alles eingewackelt und festgeschaukelt hat, macht die Bahnfahrt aber großen Spaß. Weinfelder, Bauernhöfe, Reiter und Rindviecher ziehen am Fenster vorbei, Büsche und Äste schlagen zeitweise gegen den Waggon, fast wie im Dschungelexpress. Aus dem Heckfenster blicken wir auf das grasige und leicht verbogene Gleis, manchmal überqueren wir auf rostigen Stahlbrücken Bäche, Flüsslein und Sumpfgebiete, in denen langschnäblige Reiher stehen. Dann biegen wir ins Tal des Rio Maule ein, eine wunderschöne, urtümliche Flusslandschaft begleitet uns den Rest unseres Wegs, ab und zu halten wir an winzigen Bahnhöflein, in weitem Umkreis ist keine Straße und kein größeres Dorf zu sehen. Schade, dass wir wegen dem Gerüttel kaum knipsen können, es haut einem fast die Kamera aus der Hand und man hat gerade genug damit zu tun, sich selbst und das Gepäck festzuhalten.

Eine ganze Menge Personal ist an Bord unseres Zügleins - der Lokführer, eine Schaffnerin (die noch für unsere Räder 5 US$ Transportgebühr verlangt, mehr als für uns zwei), ein Reiseproviant-Verkäufer mit umfangreichem Sortiment sowie ein Wachmann mit Schlagstock und einer gewaltigen Knarre. Ob der Zug wohl öfter überfallen wird? Solchermaßen gut beschützt verläuft unsere Fahrt recht angenehm. Kaum können wir das Auge von diesem wunderbaren Rio Maule und seinen grünen Uferhängen wenden. Als es dann fast dunkel wird, sehen wir auf einer Sandbank ein riesiges Lagerfeuer und drumrum die fröhliche Besatzung mehrerer Kajaks; ein wunderschönes und friedliches Bild - da würden wir jetzt auch gerne sitzen.

Kurz nach neun und schon bei voller Dunkelheit laufen wir in Constitución ein. Wir unterqueren eine imponierende Straßenbrücke, dann kommt auch schon das Bahnhöflein. Dort laden wir alles aus, satteln die Räder auf und suchen uns ein nettes Hotel. In der Hosteria Constitución werden wir fündig, kriegen ein schönes Zimmer mit Balkon auf den Fluss hinaus und checken gleich für zwei Nächte ein. Ein gutes Fischessen beschließt den schönen Tag, dann sitzen wir noch lange auf dem Balkon und schauen hinaus auf den breiten, trägen Fluss. Gleich vis à vis erstreckt sich im milden Mondlicht eine große, urwaldbestandene Insel, wie aus einem der Mississippi-Romane von Mark Twain. Das könnte glatt die Jackson-Insel sein, wo sich Huckleberry Finn in einer Laubhütte vor seinem besoffenen Vater versteckte, bis die abergläubischen Bewohner von St. Petersburg mit quecksilbergefüllten Weißbroten nach seiner vermeintlichen Wasserleiche suchten. Dazu die Kakaophonie aller möglicher Wasservögel - Chile hat schon wahnsinnig schöne Ecken, das muss man einfach sagen. Am nächsten Morgen dann, als wabernde Nebelfetzen aus dem dunklen Wasser aufsteigen, könnte man meinen, man stehe in einem Gemälde von Caspar David Friedrich.

Rio Maule

Entlang fein-schwarzsandiger Traumstrände und eigenwilliger Felsformationen geht es weiter nach Süden. Obwohl sie alle Voraussetzungen dafür hätte, ist diese Ecke Chiles kaum vom Tourismus geprägt. Land- und forstwirtschaftliche Nutzung steht im Vordergrund; Lastzüge transportieren Kiefernstämme in die umliegenden Sägewerke, und bei Chanco dominiert umfangreiche Weidewirtschaft mit gesund aussehenden Beständen an Fleckvieh das Bild - würde nicht öfter von rechts das Meer herübergrüßen, könnten wir uns im Allgäu wähnen, so zwischen Ottobeuren und Füssen. Die Bauern transportieren ihre Feldfrüchte mit urtümlichen Ochsenkarren, und wir müssen auf der Schotteretappe von Curanipe nach Cobquecura alles geben: An zahlreichen knackigen Steigungen drehen die Hinterräder durch, dann hilft nur noch Absteigen und Schieben. Wenn dann einer der Holzlaster vorbeiheizt, staubt es uns ein, dass wir kaum noch Luft kriegen. "Hacer un Berlín", einen Berliner machen, nennt man das in Chile in Bezug auf den Puderzucker, mit dem diese Krapfen gemeinhin bestreut sind. Immerhin bewegen wir uns aber stets in schönsten Landschaften, und bei den langsamen Geschwindigkeiten hier freuen wir uns sogar über ein bisschen Gegenwind. Und abends über jede Form eines Dachs über dem Kopf. Einmal ist es eine muffige Kammer in der Lohnarbeiter-Unterkunft eines kleinen Baugeschäfts, einmal eine gammelige Hütte hinter einem lieblosen Gemüsegarten. Aber in Concepción (zweitgrößte Stadt Chiles, all services) gibt's den verdienten Ausgleich: Hotel Alborada****, Kingsizebett, Frühstücksbuffet - kommt genau hin heute. Ist schon ein geiles Gefühl, verschwitzt und verwildert einem livrierten Hoteldiener im noblen Foyer zwei staubige Fahrräder in die Hand zu drücken: "Parken Sie das mal, bitte!" Zur Schönung unserer Reisekosten-Bilanz kochen wir dann Rigatoni al Pesto im Zimmer, mittels Gaskocher auf feinem Edelholzschreibtisch, dazu Pinot Noir aus dem Zahnputzglas. Man gönnt sich ja sonst nichts.

Hier lässt es sich aushalten!

Concepción liegt am Rio Biobio, und dessen breites Flusstal bringt uns jetzt wieder ins Inland zurück. Der Rio Biobio ist in jeder Hinsicht Chiles bedeutendster Fluss, der wasserreichste sowieso, an seiner Mündung in den Pazifik fast drei Kilometer breit, zudem bildete er bis Mitte des 19. Jahrhunderts die Grenze zum Indianergebiet. Hier siedelten einst die kriegerischen Mapuche, die Araukanier, an denen sich schon die Inkas die Zähne ausbissen und die auch immer wieder die Siedlungen der Spanier überfielen und zerstörten. Erst gegen 1880 konnten Chiles Regierungstruppen das letzte Land vermessen und in Parzellen an Siedler verteilen - sehr viele Deutsche waren übrigens dabei, teils weil ihnen durch die übliche Realerbteilung keine Existenz mehr blieb, aber auch überzeugte Demokraten, die nach der gescheiterten Revolution 1848 enttäuscht der Heimat den Rücken kehrten und ihr Glück in der Ferne suchten. Wegen ihrem Fleiß, ihrer handwerklichen Fähigkeiten und ihrer Zuverlässigkeit wurden die deutschen Aussiedler damals von der Regierung Manuel Bulnes stark umworben, Tausende folgten Bulnes' Ruf - hier, im so genannten "Kleinen Süden" um Temuco, Valdivia und die südchilenischen Seen entstand die Keimzelle der starken deutschchilenischen Tradition, der wir in abgeschwächter Form oben in Calama und auch sonst immer wieder begegnet waren. Die heute noch lebenden ca. 500.000 Mapuche hingegen, dezimiert durch Krankheiten, Alkohol und gezielt gesteuerte Zerwürfnisse unter ihren Gemeinschaften, gehören heute zu den ärmsten Bevölkerungsschichten Chiles.

Noch eine Bedeutung hat der Rio Biobio: Er ist eine Wetterscheide. Araukanien, wie man den "Kleinen Süden" auch nennt, ist recht regenreich - dunkle Wolken begleiten uns auf dem Weg nach Villarrica. Wir fetzen mit rundem Tritt die Ruta 199 entlang, und kaum haben wir unser Hostal "Torre Suiza" erreicht, geht ein ordentlicher Schauer nieder; der erste seit Wochen und beileibe nicht der letzte für die nächste Zeit. Sowas gibt's ja auch bei uns in Alemania häufig im Sommer - wirklich erstaunlich, wie dieser Landstrich bald in jeder Hinsicht unserer Heimat ähnelt! Der Heimwehfaktor für die frühen Siedler dürfte sich jedenfalls gering gehalten haben. Und die vielen Seen, die wie blaue Perlen am Andenrand aufgereiht sind, sind sowas von schön, das lässt sich mit Worten kaum beschreiben. Überragt werden sie von Vulkanen wie aus dem Bilderbuch; der Villarrica zum Beispiel mit seinem Schneekragen und der kleinen Rauchwolke, die fast immer aus ihm aufsteigt, dürfte selbst Alexander von Humboldt begeistert haben, wenn er auf seiner berühmten Amerika-Reise vor 200 Jahren so weit nach Süden vorgedrungen wäre.

Vulkan Villarrica

Am nächsten Tag ist das Wetter wieder klar; wir nehmen einen Mietwagen für einen Tag und fahren damit in den Nationalpark Huerquehue hinaus. Nicht alle Natursehenswürdigkeiten in der Seenregion erschließen sich dem Radler so ohne weiteres; oft bringen ihn (selbst mit dem Auto) erst stundenlange Schotterstrecken ins Ziel seiner Träume, da muss man einfach flexibel sein.

Schon die Anfahrt am Lago Villarrica entlang ist eine Augenweide, ständig den Vulkan im Blick, der träge vor sich hinqualmt, sämtliche Warnungen des Ministerio de Salud missachtend. Aber wenn er einmal zu qualmen aufhört, dann wird's gefährlich, sagen die Einheimischen. Dann ist sein Schlot verstopft und eine Katastrophe droht. 1984 war das das letzte Mal der Fall; der Villarrica ließ ein ganzes Dorf von der Landkarte verschwinden und viele Menschen kamen zu Tode. Trotzdem sucht der Mensch immer wieder die Nähe der Vulkane, weltweit, wie wir ja vom Popcatépetl in México oder auch von Sizilien wissen - zu verlockend ist der fruchtbare Boden und einfach auch die beeindruckende Schönheit der durch den Vulkanismus geprägten Landschaften.

Den Nationalpark erreich wir zur Mittagszeit und spazieren zuerst mal hinunter zum kleinen, von Wald umstandenen Lago Tinquilco - und der ist jetzt wirklich die totale Postkarten-Idylle; malerisch steht eine einzige Tisch-Bank-Garnitur auf einer kleinen, sandigen Halbinsel, wie extra für uns hingestellt, kein Mensch in weitem Umkreis außer uns. Leise plätschert das Wasser ans Ufer; eigentlich fehlt nur noch ein Elch drüben im Wald, dann wären wir jetzt in Yukon.

Lago Tinquilco

Und die anschließende fünfstündige Wanderung durch die urwüchsigen Wälder verzaubert uns vollends. Obwohl wir uns hier etwa in den gleichen Breitengraden bewegen wie zu Hause, ist die Vegetation völlig anders: Riesige Robles bestimmen das Bild, eine kleinblättrige Eichenart, die bei uns fälschlich "Südbuche" genannt wird; dann gigantische, uns unbekannte Nadelbäume mit breiten, fast seidenweichen Nadeln; Bambus, den wir eigentlich immer mit den Tropen in Verbindung gebracht hatten, dazu hausgroße Fuchsiensträucher, Mimosenbüsche und das chilenische Nationalblümchen Copihue mit seinen rotleuchtenden, glockenförmigen Blütenkelchen. Oberhalb von etwa 1200 Höhenmetern dann mischen sich Araukarien ins Bild, die riesenhaften, bizarren "Andentannen", die für jeden Dinosaurier-Film den Background geben könnten. Diese immergrünen, kalten Regenwälder des Südens stehen in ihrer Faszination den Redwoods in Nordamerika kaum nach. Nur schade, dass der Vulkan, den man auf unserer Wanderung immer wieder von unterschiedlichen Blickwinkeln sehen sollte, mittlerweile sein Haupt in Wolken trägt wie an so vielen Tagen im Jahr.

Termas Los Pozones

Abends dann, als wir in den Thermen von Los Pozones sitzen (auch so ein tolles Naturerlebnis; ein paar Heißwasserbecken mitten im Wald, zur Abkühlung kann man in den nahen Bach springen), setzt ein ordentlicher Regen ein, und dann regnet es eigentlich praktisch drei Tage durch. Ein Wetter zum Webseite Schreiben, Fahrräder Überholen - und um einfach im "Torre Suiza" herumzuhängen, vielleicht unserem besten Backpacker- Hostal überhaupt bislang. Das Haus atmet nicht von ungefähr den Charme eines Schweizer Chalets; es gehört Beat und Claudia aus Basel, die dereinst dabei waren, per Rad die Welt zu umrunden und dann 1996 in Villarrica hängen geblieben sind. Ehrlich, wir können's verstehen, das ist auch ein gesegneter Flecken Land. Beat, der einen rundum zufriedenen Eindruck macht, ist dabei zum Hobby-Landwirt geworden, hat Schafe, Bienen, drei Lamas und eine Menge Haselnusssträucher. In Beats Hausordnung steht, man solle auf keinen Fall die Tochter Ana Sophia, den Hund Fondue und die Katze Nena füttern - er hätte dazuschreiben sollen, genauso wenig die anwesenden Tourenradler, denn die allabendlichen und bald legendären Fress- und Rotwein-Gelage in der gemütlichen Wohnküche bringen es fast fertig, unsere gesunde Radler-Moral zu zersetzen. Beni und Moni aus Zug (die mit ihren Kids Stephanie, 5, und Fabienne, 2, auf Rucksacktour durch Südchile sind und, wie wir lachend feststellen, in Rancagua und Constitución zum selben Zeitpunkt wie wir in denselben Hotels gewohnt haben) kochen Muscheln im Zitronen-Korriander-Sud, wir steuern Tagliatelle alla Carbonara bei, dazu gibt es köstliches Weißbrot von der Panaderia "Rostock", diverse Salatsorten und dann Nachtisch bis zum Abwinken aus den unerschöpflichen Keksvorräten von Birgit (Freiburg). Nach fünf Tagen schaffen wir endlich den Absprung, sonst passen wir nicht mehr durch die Tür. Aber der Abschied fällt allen schwer.

Im "Torre Suiza"

Die nächsten Tage treten wir unsere Metall-Mulis begeistert über gewundene Straßen durch allerschönste Landschaften. Viel Schotter ist dabei, dafür gibt es kaum Verkehr, und ein See ist schöner als der andere. Der Lago Calafquen zum Beispiel mit dem verträumten Seebad Lican Ray, am Ufer fantastische Holzchalets auf gepflegten Grundstücken, dann der tiefblaue Lago Panguipulli mit dem Vulkan Choshuenco im Hintergrund, und der kleine Lago Rinihue, vielleicht unser Geheimfavorit: Nur über eine geschotterte Stichstraße erreicht man das in einer Moränenmulde gelegene, von Wäldern und Viehweiden umgebene Juwel, und unten gibt es ein tolles, völlig zivilisationsentrücktes Hotel, das leider etwas oberhalb unserer pekuniären Möglichkeiten angesiedelt ist. Aber für ein Bier und ein Sandwich auf der Terrasse langt es trotzdem, und für einen ausgedehnten Spaziergang durch den wunderbaren Park. Und am kilometerlangen Naturstrand sind wir heute in weitem Umkreis die einzigen Touristen - ehrlich, das kommt hier schon recht nah an unsere Vorstellung vom Paradies.

Lago Riñihue

Weihnachten verbringen wir geruhsam in Valdivia, in einem gemütlichen Holz-Ferienhäuschen, komplett mit Herd und Backofen, gutbürgerlich, mit Weihnachtskerzen und Lebkuchen, fast wie zuhause - was Wunder auch, gilt doch Valdivia als die mit Abstand deutscheste Stadt in ganz Chile. Das hat seine absolut positiven Nebenwirkungen wie zum Beispiel einen Besuch bei der legendären Brauerei Kunstmann (Werbung: "Das gute Bier!") und in deren absolut genialer Brauereigaststätte. Juchu, hier gibt es doch glatt - Hirschgulasch mit Spätzle, alles nur vom Feinsten, in die Soße könnte man sich hineinlegen! Da hüpfen die lange entwöhnten Geschmacksknospen! Und endlich haben wir, nach zweimonatiger Odyssee durch Chiles Gastronomie, ein deutsches Restaurant gefunden, das nicht zur Folklore verkommen ist und wo es auch noch anderes heimisches Futter gibt als Kartoffelbrei mit Sauerkraut und ein Kuchenbuffet.

Kunstmann's Brauereigaststätte

Natürlich sind wir nicht nur wegen der Brauerei Kunstmann nach Valdivia gekommen - nein, es hat uns einfach interessiert, wie unsere Landsleute in früheren Jahren auf oft beschwerliche Weise ausgewandert sind und versucht haben, in der Fremde Fuß zu fassen. So besuchen wir natürlich das Historische Museum der Universidad Austral de Chile, untergebracht in einem wunderschönen alten Herrenhaus mit Blick über den Rio Calle Calle. Es gehörte einst Carl(os) Anwandter, einer der wichtigsten Persönlichkeiten während der ersten Einwanderungsphase. Anwandter, in der "Alten Welt" Apotheker und Bürgermeister von Calau in Brandenburg, dazu Mitglied der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche von 1848 und überzeugter Anti-Monarchist, kam bereits 1849 als einer der allerersten nach Chile und versuchte hier, seine Vorstellungen von Freiheit und Gerechtigkeit zu verwirklichen. Er avancierte schnell zum Sprecher der deutschsprachigen Einwanderergemeinde, die anfangs mit großen juristischen und ökonomischen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte. In Valdivia betätigte er sich als Bierbrauer, war Rektor der Universität und hielt über 20 Jahre lang politische Vorlesungen - ein ungemein sympathischer, gebildeter Idealist, dieser Mann; entsprechend interessant ist auch das Museum.

Zwei Tages- und Radeletappen weiter südlich erreichen wir den Lago Llanquihue und die hübsch am See gelegene Gemeinde Frutillar, frei übersetzt etwa "Erdbeerhausen" - und fragen uns, in welchem Land sind wir jetzt eigentlich? Fast jedes zweite Auto hat einen Schwarz-Rot-Gold-Bäpper am Heck, die gepflegten, bunten Holzhäuser an der Uferstraße könnten jedem deutschen Heimatmuseum entsprungen sein, es gibt ein Hotel "Frau Holle", ein Restaurant "Guten Appetit", eine Konditorei namens "Kuchen-Laden" und die Cabañas "Residenz am See". Wir radeln an der "Lutheranischen Kirche" vorbei, und - jetzt bleibt uns fast der Mund offen stehen, die Bomberos  nennen sich doch tatsächlich "Freiwillige Feuerwehr"! Das ist an der Fahrzeughalle zu lesen, dazu auf den Türen des Spritzenwagens, ganz ohne spanische Übersetzung, erstaunlich.

In Frutillar

Selbstredend suchen wir sofort mal das Museo Colonial Aleman auf. Staunend stehen wir dort  vor einer Schwarzwälder Wassermühle, einer komplett eingerichteten Schmiede, einer norddeutschen Rundscheune, einer Dreschmaschine Marke "Heinrich Lanz, Mannheim", einem Taubenhaus und einem bäuerlichen Gemüsegarten. Und im Innern der Gebäude gibt es ein unglaubliches Sammelsurium häuslicher Gerätschaften - Nachttöpfe, Überseekoffer, Schnürmieder, Waffeleisen, Hutschachteln, Geigen, Kinderspielzeug, Krauthobel, Poesiealben, bestickte Kissen mit der Aufschrift "Trautes Heim - Glück allein" - und, und, und. Aber auch unschätzbare Dokumente hängen da hinter Glas, alte Reisepässe, Einbürgerungsurkunden, Fotos von der drangvollen Enge auf den Auswandererschiffen, Familienbilder mit bucklig gearbeiteten, Kaiser-Wilhelm-bärtigen Vätern, verhärmt aussehenden Müttern im strengen schwarzen Schürzenkleid und Dutzenden von Kindern in Lederhosen und Matrosenanzügen. Hart war das Leben der ersten Kolonisatoren, mit der Urbarmachung des dschungelartig bewachsenen und sumpfigen Lands war das so eine Sache, wie etlichen Briefen der Pioniere an ihre daheim gebliebenen Verwandten zu entnehmen. Der Weg ins benachbarte Puerto Octay, so lesen wir da, war "ein verwachsener, grüner Tunnel", den die Männer nur mit Buschmessern und in Gruppen angingen, und in dem dereinst "der Familienvater Andreas Winckler trotz aller Vorsichtsmaßnahmen spurlos und dauerhaft verschwand". Und der Bauer Julius Heldt schrieb an seinen Freund Julius Aurich nach Hause, wenn er sich mit dem Gedanken der Auswanderung trage, solle er doch "keine sperrigen Dinge mitbringen, die das Frachtkonto belasten, als da seien vor allem Möbel, dafür aber unbedingt eine Anzahl veredelter Apfelbäumchen sowie eine gute Nähmaschine, welche hierzuland nur sehr schwer zu bekommen".

Museo Colonial Aleman

Tja, ungeheuer interessant, so ein bisschen Spurensuche im Kielwasser der frühen Pioneros Alemanes. Für uns war diese Ecke Südchiles ein Must See an der Panamericana, ähnlich wie etwa Dawson City, die Baja California, der Panamakanal, Machu Picchu oder die Salpeterstädte. Ungeheuer interessant aber auch noch das Gespräch mit Karin Weil Gonzalez, der Leiterin des Museo Colonial. Von ihr erfahren wir zum Beispiel, dass die Freiwillige Feuerwehr selbst heute noch der wichtigste Sozialtreff in Frutillar ist, dass jeder in Chile stolz ist, wenn er auch nur in einer Seitenlinie einen deutschen Vorfahren nachweisen kann, trotzdem aber kein Mensch (außer den ganz Alten) auch nur noch ein Wort Deutsch spricht, noch nicht mal in Frutillar und in Valdivia. Deutsche Kultur ist schick, praktisch ein weltläufiges Aushängeschild, eine Art Qualitätslabel, um sich von seinen Mitbürgern abzusetzen, ähnlich wie die modernen Amerikanismen bei uns zu Hause. Der Chilene konsumiert Kuchen und liebt deutsche Autoaufkleber, ohne jedoch viel mehr von der dahinter stehenden Kultur zu verstehen, ähnlich wie man in Germany ein Full Suspension Bike fährt und seine Jeans im Western Store kauft statt bei C&A. Und so begab es sich, quasi posthum, dass wir im Museum von Frutillar erfahren haben, warum sie beim "Münchner" in Santiago keinen Laberkase hatten.

Jetzt aber wieder in den Sattel, auf zum Etappen-Endspurt! Nur noch 40 Kilometer trennen uns von Puerto Montt und von der Carretera Austral, dem Einfallstor zu den Landschaftswundern des "Großen Südens". Doch zuerst sitzen wir noch einen kräftigen Regen aus - die ganzen Tage am Lago Llanquihe war es bedeckt und gab Niederschläge, nicht zu knapp. Wir nähern uns der regenreichsten Region Chiles, das ist unzweifelhaft zu spüren! Kurz vor Mittag lässt es nach, Aufbruch, bald sind wir wieder auf der Ruta 5 und spulen zügig unsere letzten Kilometer herunter. Und da treffen wir tatsächlich mal wieder zwei Reiseradler, und zwar zwei von der ganz sympathischen Sorte: Guido (67) und Horacio (68) aus Imola / Italien, die in Lima gestartet sind und möglichst weit nach Süden wollen. Beide haben riesige Anhänger an ihren Rädern, gerade sind sie beim Spaghetti Kochen, mitten auf der Autobahn, die Regencapes hängen über einer Notrufsäule zum Trocknen.

Forza Italia!

So lustige, lebensfrohe Radler wie diese beiden Veteranen haben wir noch selten getroffen! Guido erinnert sich sehr gut an Stuttgart, wo er vor über 40 Jahren mal einen internationalen Ringkampf gewonnen hat; zu Hause in seinem Wohnzimmer hat er noch eine Glasschale stehen, die an dieses Event erinnert. Wir quasseln und lachen eine ganze Weile auf Spanisch, Englisch, Italienisch, Deutsch - "So viel Sprache, Kopfe brummt!" grinst Guido und langt sich ans Hirn ob unserem Kauderwelsch. Dann versuchen die beiden noch, mein Rad mit Gepäck hochzuheben. "Madonna mia!" lacht Horacio und tut so, als habe er sich verrenkt. Aber selbst haben die beiden auch nicht weniger, dazu noch das Gewicht der Anhänger. Darum haben sie auch die schweren Andenetappen ausgelassen und sind über Arequipa und an der Küste entlang gefahren. Urplötzlich fängt es wieder an zu regnen - ausgerechnet jetzt, wo die Spaghetti al dente sind! Schnell verpacken die beiden Italiener ihr Gepäck unter riesigen Planen, wir aber geben Gas und erreichen bald eine Bushaltestelle mit Wartehäuschen, wo  wir schnell unsere Mittags-Sandwiches hineinziehen und uns regendicht verpacken, bevor es wieder weitergeht.

Dann kommt auch schon Puerto Montt in Sicht, ein Downhill folgt bis ans bleigrau daliegende Meer. Ciao, Nord- und Zentralchile! Jetzt sind wir gespannt, was der "Große Süden" so alles an Highlights bringt.

 

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