www.bikeamerica.de - Reisebericht über unsere Panamericana-Tour 4

Durch die Sierra Madre

Eisenbahnerlebnis im Kupfercanyon
Weihnachten 2003 – entspannt sitzen wir auf unserem Hotelbalkon in Mazatlán. Selbst um diese Jahreszeit hat es abends 20°C., leise rauscht der Pazifik ans Ufer, drunten auf dem Malecón joggen die Turistas norteamericanos, wir mampfen illegal importierte Lebkuchen und schauen den Mexikanern beim Cruisen zu, fast wie drüben in La Paz. Die tolle Baja-Etappe ist Geschichte jetzt, unsere Iron Horses stehen in der Ecke und scharren mit den Reifen, aber bevor wir uns gen México City in den Sattel schwingen, muss ein kleiner Rückblick einfach sein, quasi in die Frühgeschichte unserer México-Reiseerlebnisse.

Chihuahua, 31. Dezember 1994. Die alte Silberstadt im Norden Mexikos ist im Winter ein tierisch kalter Flecken, vor allem wenn man gerade im klapprigen Hühnerbus die 200 Meilen von El Paso, Texas heruntergekommen ist. Jetzt sitzen wir bei Dino’s, einer rauchigen, kleinen Pizzeria, vor dem Ofen. Dino ist ein Sizilianer mit spanischer Großmutter, weiß der Geier, wie es den nach Chihuahua verschlagen hat. Was uns hierher führt? In Chihuahua beginnt der Schienenstrang des Chepe, des Tren de Chihuahua al Pacifico durch die Barranca del Cobre hinunter nach Los Mochis, und der ist für jeden echten Eisenbahnfan ein Muss. Zwei schöne Zweiter-Klasse-Boletos für den morgigen Vista Tren haben wir bereits in der Tasche.

Dampflok in Chihuahua

Einer von Dinos sechs Söhnen bringt unsere Pizza. Wie wohl die Mexikaner Silvester feiern, fragen wir ihn in bestem Volkshochschul-Spanisch. „Todos personas pfch - puff, y la catedral ding dong!" Sehr schön, also wie daheim. Da sind wir mal gespannt. Wir gehen hinüber in die Posada San Francisco und hauen uns noch eine Weile aufs Ohr, doch kurz vor Mitternacht stehen wir pünktlich auf dem Platz vor der Kathedrale. Ist aber keiner da, alle Chihuahuenses scheinen vollzählig in der Messe zu sein. Um Zwölf kommt jedoch einer heraus und zieht an einem langen Seil, und siehe da: la catedral ding dong! Mit pfch - puff ist es aber nicht so weit her; wir sehen genau eine Rakete, deren Stäbchen scheppernd auf ein Autodach fällt. Noch nicht einmal unser Sekt knallt, denn die Flasche hat einen Schraubverschluss. Dafür haben wir noch in keiner Silvesternacht so viel und gut geschlafen, und im Nachhinein betrachtet war’s doch muy folklorico.

Auf dem Bahnhof herrscht schon mächtig Betrieb, als wir morgens gegen halb sieben eintreffen. Acht blaue Waggons stehen auf dem müllübersäten Gleis bereit. An der Diesellok wird noch fleißig gebastelt, und von überall aus der Dunkelheit quellen ganze Menschenmassen auf den Bahnsteig. Und was sie alles dabei haben! Die meisten Passagiere waren wohl über Weihnachten beim Vetter in Arizona oder so, man sieht viele mit gebrauchten Elektrogeräten und Autoersatzteilen. Die durchschnittliche Familie besteht aus einem würdigen Señor, immer mit Sombrero, oft mit Kühlschrank, dahinter kommt die Ehefrau mit einem größeren Posten Nachwuchs in allen Altersstufen, von denen jeder mindestens eine Tasche trägt. Wie gut, dass wir zwei Platzkarten ergattern konnten! Der Conductor verstaut derweil eine Mikrowelle und das Fahrrädchen für den Chico unter den Sitzen und das Armaturenbrett für den 83’er Chevy in der Toilette.

am Bahnsteig im Wagen # 102

Unser Wagen # 102 ist ein schon etwas älteres Modell. Ein bisschen ärgern wir uns zunächst, denn der Nachbarwaggon ist nagelneu, naja, was soll’s, wenigstens ist es hinreichend sauber. Eine Gruppe mexikanische Pfadfinder ist auch in unserem Wagen, riesige Rucksäcke wandern ins Gepäcknetz, auch eine schon etwas angegammelte Gasflasche, deren Hahn mit einem Stückchen Papier verstopft ist. Wird schon nicht explodieren, und der Knabe vor uns, der laufend einen recht Würzigen fahren lässt, wird dabei hoffentlich das Explosionsrisiko nicht noch erhöhen.

Um 7.10 Uhr ruckt der Zug an, fast pünktlich mit nur zehn Minuten Verspätung. Es ist noch stockdunkel, als wir langsam durch die Vororte rollen, im Schein vereinzelter Straßenlaternen sieht man zahlreiche heruntergekommene Einfachsthäuser, ein paar streunende Köter und viel Müll. Als es dann gegen halb acht langsam hell wird, befinden wir uns in einer sehr hübschen Hochebene mit vereinzelten steinigen Hügeln und Kakteen. Es ist noch bereift; weit draußen suchen sich einige verloren wirkende Rindviecher ihr karges Futter zusammen.

der Chepe vor Cuauhtemoc

Vereinzelt sitzen verwegen aussehende Sombreroträger neben dem Gleis und haben sich aus alten Eisenbahnschwellen ein Feuer gemacht. An einer winzigen Bahnstation warten zwei Reiter mit Beipferden auf Fahrgäste, die hier aussteigen. „Zwanzig oder fünfundzwanzig Männer kamen in den Zug gestiegen. Alle waren Mestizen, gegen die Kälte in Decken gehüllt, mit Stiefeln an den Füßen und mit großen Strohhüten auf. Sie verteilten sich auf die Plattform im Wagen zweiter Klasse. Kaum war der Zug in Fahrt, zogen alle gleichzeitig, ohne ein Wort zu sagen, unter ihren Decken Gewehre und Revolver hervor und begannen, Schnellfeuer zu eröffnen." Man kann es nicht verhindern, B. Travens Roman „Der Schatz der Sierra Madre" kommt einem in den Sinn, den man als Jugendlicher verschlungen hat. Da, wieder wird das Tatac, tatac der Schienenstöße langsamer. Wieder hält der Zug... doch nein, der Hilfsbremser klopft nur die Radlager und die Bremsen ab. Uff!

Bald rollt der Zug in eine flache Senke; es kommen viele Obstbäume in Sicht und eine Reihe von Apfelsaftfabriken. In der Region Cuauhtemoc gibt es viele deutschstämmige Mennoniten, die hier ähnlich wie die Amish in Pennsylvania ihr traditionsgebundenes und arbeitsreiches Leben führen; sie haben dieses eigentlich recht unfruchtbare Land hier erstklassig kultiviert. Dies hat ihnen die volle Hochachtung der Mexikaner eingebracht, und generell muss lobend erwähnt werden, dass México schon immer sehr großzügig in der Aufnahme von Flüchtlingen war, während dem Dritten Reich beispielsweise oder zu Zeiten des Bürgerkriegs in Guatemala. Unsere Sympathie für dieses Land wächst.

Wir schrauben uns höher hinauf ins Bergland der Sierra Madre, es wird zerklüfteter und etliche interessante Viadukte werden überquert. In La Junta wird die Lok ausgetauscht, bestimmt eine halbe Stunde vergeht, bis alles wieder auf der Reihe ist und die Jungs vom Bahnsteig ihre ganzen gekochten Maiskolben und Colabüchsen verkauft haben. Auf dem Bahnhofsgelände leben viele Leute in ausrangierten Güterwagen, in die sie Fenster gesägt und einen Ofen eingebaut haben. Daneben sind Esel angebunden, Hunde wühlen nach Fressbarem, Mütter, die selbst noch beinahe Kinder sind, lehren ihre Kleinen die ersten Schritte im Staub – mexikanischer Alltag eben, 50 % der Landesbevölkerung lebt hart an der Armutsgrenze.

La Junta

Langsam wird es Mittag. Wir essen unsere Brote und trinken das Bier, das wir in der Stadt noch gekauft haben. Jetzt sind wir in Hochlagen von über 2000 m, schöne Kiefernwälder und Bergbäche beleben die Landschaft. San Juanito ist der nächste Ort, ein richtiges Altiplano-Städtchen, könnte auch in Bolivien sein. Das ist das Gebiet der Tarahumara-Indianer, die sich vor den spanischen Eroberern hierher zurückgezogen haben. Sie sind bekannt als gute Läufer, die locker zum Einkaufen einen Tagesmarsch von hundert Kilometern im Dauerlauf zurücklegen und früher immer das Wild so lange gehetzt haben, bis es vor Entkräftung umgefallen ist. In Creel haben sie ihr Zentrum, dort sitzen viele auf dem Bahnhof, mit Gesichtern wie geschnitzt, und warten stundenlang auf den Zug, um vielleicht ein paar handwerkliche Arbeiten verkaufen zu können. Heute müssen sie auf den Zug recht lange warten, denn wir haben jetzt schon drei Stunden Verspätung. Später erfahren wir, dass der Zug so langsam gefahren ist, weil der Gegenzug durch auf den Gleisen liegende Felsbrocken aufgehalten wurde.

Zwischenstopp

In Creel stehen viele amerikanische und europäische Touristen auf dem Bahnsteig. Hier kann man nämlich die Fahrt für ein oder zwei Tage unterbrechen und einige sehr lohnende Fahrten und Wanderungen machen. Aber nur wenige dürfen einsteigen, denn unser Zug ist fast voll besetzt. Wer nicht mitkommt, muss dann später den Mixto nehmen, ohne Platzkarten. Der Mixto nimmt jeden mit, und wenn die Passagiere aus den Fenstern quellen. Da doch lieber der Vista Tren!

Creel Diesellok Garküche

Wir überqueren dann die Wasserscheide. An der Station „Divisadero Barranca" hält der Zug eine Viertelstunde, damit die Reisenden einen Blick in den Canyon werfen können. Hier kann man auch etwas zum Essen kaufen, viele Tarahumaras betreiben Garküchen auf Öfen, die sie aus alten Ölfässern hergestellt haben. Auch Schnitzwerk und Webarbeiten werden angeboten. Schöner Blick von hier, das soll die tollste Schlucht der Welt sein, spektakulärer als der Grand Canyon. Aber der Vergleich scheint uns doch etwas weit hergeholt. An Tiefe und Breite steht die Barranca del Cobre dem Grand Canyon zwar nicht nach, aber sie ist eher ein weitverzweigtes System aus kleineren Tälern, und nur der Grand Canyon bietet diesen Weitblick und diese vielen verschiedenen Felsfarben und -formationen.

Divisadero Barranca

In vielen Kurven schießt der Zug jetzt durch die Täler. Die Sonne verschwindet langsam. Schade, gerade hier hätte man die tollsten Bilder machen können. Es macht aber auch so Spaß, am offenen Fenster zu stehen und hinauszublicken. Auf einem Ast sehen wir noch einen gesund und kräftig aussehenden Geier sitzen, dann wird es langsam vollends dunkel, und man sieht nur noch vereinzelt die Holzfeuer der Streckenarbeiter, wo sie wieder alte Eisenbahnschwellen verheizen. Und das Licht aus den Waggons beleuchtet gespenstisch die Schatten der vorbei huschenden Büsche. Plötzlich macht es Britzel, Puff. Im Waggon vor uns ist das komplette Licht ausgefallen. Der Zug hält darauf auf freier Strecke, aber der Conductor kann leider den Schaden nicht beheben. So müssen die werten Pasajeros eben bis Los Mochis im Dunkeln sitzen. Und wir sind jetzt doch ganz froh, dass wir in diesem schönen neuen Wagen keinen Platz gekriegt haben, ist wohl noch nicht ganz ausgereift.

Banditen?

Eine Weile unterhalten wir uns noch (auf Englisch) mit einem etwa 14-jährigen Jungmexikaner. Der ist mit seinen Eltern und zwei Geschwistern gerade auf dem Weg nach Hause in Los Mochis; sie haben über Weihnachten die Oma in El Paso besucht. Dabei haben sie einen Umweg über Presidio in Texas gemacht und einen Karton Shampoo und Vitamine für sein Pferd gekauft, denn solche Dinge sind anscheinend in México nur schwer und für viel Geld zu kriegen. Wenn er in dem Alter schon ein eigenes Pferd hat, muss die Familie besser situiert sein, aber trotzdem machen sie diese anstrengende Zwei-Tages-Reise mit Bus und Zug und sind dabei noch recht fröhlich. Das imponiert uns, vor allem, wenn man überlegt, dass vielen bei uns zu Hause schon eine 20-Kilometer-S-Bahn-Fahrt nach Stuttgart zu anstrengend ist, wenn sie zum Einkaufen gehen. Viele Familien hier im Zug haben auch kleine Kinder in allen Altersstufen dabei. Wir kennen Leute in Alemania, die trauen sich nicht einmal im Auto mit ihren kleinen Kindern in den Urlaub zu fahren, weil das so umständlich und für den Nachwuchs so entsetzlich unbequem sein soll. Aber keines der Kinder quengelt hier, und wenn, wird es von Muttern getröstet und beruhigt sich schnell. Dabei wirken alle Mexikaner ausgeglichen und scheinen die Reisestrapazen nicht als solche zu empfinden.

Zum Schluss schaltet sich noch die Klimaanlage von selbst ein und es ist klapperkalt im Waggon. Immerhin hat man jetzt eine Auswahl: Im Nachbarwagen ist es warm und dunkel, bei uns kalt und hell. Und mindestens fünf Passagiere, die wir nie zuvor gesehen haben, bekämpfen gemeinsam unseren Kohldampf. Wir haben das Futter falsch kalkuliert, denn der Zug sollte eigentlich um 20 Uhr ankommen, und jetzt ist es kurz nach Mitternacht. Von schräg vorne kommt ein Hühnerbein, der Sombrero hinter uns gibt eine Avocado, die Pfadfinder haben einen Kuchen. Nachts um zwei sind wir gerädert, aber glücklich in Los Mochis. Wir schnappen unsere Rucksäcke und wanken ins erste beste Hotel.

Gut neun Jahre ist das jetzt her. Die Fahrt war hart und unbequem, und von der Barranca del Cobre haben wir zwecks Verspätung und Dunkelheit fast nichts gesehen. Aber seither hat México bei uns einen Stein im Brett, und in kein anderes Land der Welt kommen wir immer so gerne wieder.

 

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