www.bikeamerica.de - Reisebericht über unsere Panamericana-Tour 13

Durch Patagonien nach Feuerland

von Puerto Montt nach Ushuaia und ans "Ende der Welt"

Im Wohnzimmer meiner Großmutter stand ein kleines Schränkchen mit einer Glastür, und in dem Schränkchen befand sich ein Stück Haut. Es war nur ein winziges Stück, aber dick und ledrig, mit Strähnen borstigen rötlichen Haars. Es war mit einer rostigen Nadel an einer Postkarte befestigt. Auf der Postkarte standen in verblasster schwarzer Tinte ein paar Worte, aber ich war noch klein und konnte noch nicht lesen."

So beginnt Bruce Chatwyns berühmtes Buch In Patagonien. "Nie im Leben habe ich mir etwas so sehr gewünscht wie dieses Stück Haut", so Chatwyn weiter. Das Hautstückchen gehörte zu einem Mylodon, einem ausgestorbenen Riesenfaultier, dessen Reste ein Captain Charley Milward Ende des 19. Jahrhunderts entdeckt und nach England gebracht hatte. Nach dem Tod der Großmutter wurde es versehentlich fortgeschmissen - für Chatwyn der Impuls für eine lange Reise Anfang der 70er-Jahre. Und für eine der stimmungsvollsten Reisebeschreibungen, die je verfasst wurde.

Andere Patagonien-Reise-Intentionen sind da wesentlich prosaischer. Von Gletschern und Trekking rund um die Torres del Paine ist da die Rede, oder "Patagoniens Reiz liegt in seiner Leere". Nicht mal ein Mensch pro Quadratkilometer lebt hier, weit weniger als Schafe. Für uns ist Patagonien, außer durch Chatwyns Riesenfaultier und Worte wie "Sturm" und "Unwegsamkeit", zunächst im Hinterkopf eigentlich überhaupt nicht besetzt. Aber am Ende der Panamericana liegt Ushuaia, Feuerland. Da wollen wir hin, und dazu muss man durch Patagonien. Unumgänglich, no way.

Patagonien, so verheißt die Fachliteratur, beginnt gleich hinter Puerto Montt. Nicht weit, dann ist es Sense mit Asphalt, der Ripio beginnt und bleibt den werten Patagonien-Feuerland-Touristen für Hunderte von Kilometern erhalten. Mein Fahrradrahmen hat schon seit einer Weile einen Haarriss an einer Hinterbaustrebe, und unser Respekt vor den langen Schotterstrecken und den südpatagonischen Stürmen sitzt tief - Fazit: Es gibt mal wieder 'ne Auto-Etappe, dazu haben wir uns schon beizeiten entschlossen und bei Hertz eine robuste Camioneta reservieren lassen, einen Pickup Truck mit großer Bodenfreiheit, komplett mit Bewilligung zum Grenzübertritt nach Argentinien. Und so werden wir eines schönen Januarmorgens bei der Hertz-Filiale Puerto Montt vorstellig, erhalten einen schönen, fast neuen Toyota Hilux und die Fahrräder kommen hinten drauf. Unterwegs werden wir auf jeden Fall ein paar Tages-Radtouren machen.

Auf Chiloe

Bald donnert unsere Camioneta auf den letzten Kilometern der Ruta 5 gen Süden. Eine kleine Fähre bringt uns auf halbstündiger Fahrt hinüber zur Insel Chiloe, anerkannt dem Regenloch Chiles. Charles Darwin vermerkte 1834 in seinem Reisetagebuch: "Im Winter ist das Klima schaudervoll, und im Sommer ist es nur wenig besser. Ich glaube, es gibt innerhalb der gemäßigten Zone wenige Teile der Erde, wo so viel Regen fällt. Die Winde sind sehr stürmisch, und der Himmel ist beinahe immer bewölkt". Diese Sätze sind nicht ganz von der Hand zu weisen. Auf unserem ersten kleinen Bike Trip von Ancud zum Fischerdorf Quetalmahue (15 Kilometer einfach) erleben wir alle Wetterformen von Starkregen bis zu sengender Sonne in flottem Wechsel. Für den Hinweg brauchen wir knapp zwei Stunden, für den Rückweg 25 Minuten. Ein urtümliches Erlebnis, ohne Frage.

In Quellon am südlichen Ende der Insel Chiloe ist die Panamericana und auch die Ruta 5 ganz offiziell zu Ende. Wir schiffen uns ein auf der Navimag-Fähre "Alejandrina" über den Golfo Corcovado nach Chaiten. Alle Autos werden auf dem Deck festgezurrt; fünf Stunden dauert die Überfahrt auf recht rauer See. Brecher schlagen über die Bordwand, Gischt spritzt über Autos, Fahrräder und Motorräder, kein Mensch hält es länger als zwei, drei Minuten auf Deck aus. Mann, was für Naturgewalten! So ähnlich müssen sich die Wikinger gefühlt haben auf ihren Drachenbooten, als sie zum ersten Mal über den Großen Teich in die Neue Welt segelten. Mit uns an Bord sind Oscar, ein gut bepackter, fröhlicher Reiseradler aus Kolumbien, und zwei holländische Motorradfahrer. Wir alle wollen nach Ushuaia.

Chaiten empfängt uns mit Schnürlregen und wirkt auf den ersten und auch auf den zweiten Blick recht pionierhaft und ursprünglich. Um ein Netz breit angelegter Avenidas gruppieren sich windschiefe Holzhütten und ein paar Hotels; ein paar Lebensmittelgeschäfte und eine gute Bäckerei auch, immerhin. Hier, so empfiehlt der Reiseführer, sollte man nochmal tanken und Verpflegung fassen, denn jetzt geht es auf der berühmten Carretera Austral nach Süden, 450 Kilometer durch die totale Wildnis zunächst bis Coyhaique. In unserer gemieteten Cabaña kochen wir einen guten, heißen Eintopf, dann machen wir noch, dick eingemummelt, einen kleinen Spaziergang an der Uferpromenade. Es bläst, stürmt und regnet immer noch, aber ein paar Straßenlaternen werfen ein romantisches Licht, draußen im Meer schwimmt eine riesige Gruppe Schwarzhalsschwäne, und wir fühlen uns schon hier, noch gut 2000 Kilometer vor Feuerland, wie am Ende der Welt.

Dass es in Patagonien so viel regnet, hätten wir nicht gedacht. Aber das muss man differenzierter sehen - die dürren Grasländer, die statistisch pro Hektar ein Dreiviertel Schaf ernähren, sind erst viel weiter südlich bzw. auf der argentinischen Seite der Südanden anzutreffen. Hier, im chilenischen Nordpatagonien, regnet sich die feuchte, vom Pazifik aufsteigende Luft an den Andenhängen ab und es gibt riesige, schier undurchdringliche Urwälder.

Nordpatagonischer Urwald

Nahebei liegt der Parque Pumalin, der größte private Naturpark der Welt, zu vergleichen etwa mit einem der tollen US-amerikanischen Nationalparks und ins Leben gerufen durch den Multimilliardär Douglas Tompkins, früher Inhaber der Modefirma "Esprit". Wunderschön ist es hier, riesige Alercen haben im Park überleben können, zu vergleichen etwa mit den Redwoods in Northern California und oft über 1000 Jahre alt. Genauso wie die Redwoods wurden auch die Alercen früher exzessiv abgeholzt - heute noch sind viele Häuser in Südchile mit Alercen-Schindeln verkleidet; die sind praktisch unverwüstlich, und ein Fensterrahmen aus Alercenholz hält über 100 Jahre, ohne ein einziges Mal gestrichen zu werden. Alercenholz hat, bedingt durch den sehr langsamen Wuchs der Bäume, total eng aneinander liegende Jahresringe, die Wind und Regen kaum eine Chance lassen. Kein Wunder, dass dieses Holz so begehrt ist. Hätte Tompkins nicht 1991 hier seinen Naturpark eingerichtet, wären die Alercen heute in Chile ausgestorben - das war praktisch fünf vor zwölf!

Über 1000 Kilometer weit führt jetzt die Carretera Austral nach Süden, bevor sie tief drunten im Gletscher-, Fjord- und Inselgewirr der patagonischen Anden bei Villa O'Higgins endet. Diese Piste, mit vollem Namen "Carretera Longitudinal Austral Presidente Pinochet", wurde eben von demselben in den 70er-Jahren ins Leben gerufen, aus militärstrategischen Überlegungen als Nord-Süd-Straßenverbindung parallel zur Grenze nach Argentinien. Und so fräste das Militär dieses Mammutprojekt in die Wildnis, immer den natürlichen Gegebenheiten folgend, entlang wild schäumender Flüsse, auf knackigen Steigungen über steile Pässe, mittels Dämmen durch ausladende Sumpfgebiete und in engen Schneisen durch riesige Urwälder. Schotter, fast alles (wie erwähnt) - aber man ist dabei, einzelne Passagen mit einer staubfreien Oberfläche zu versehen, vor allem um die wenigen Siedlungszentren. Hardcore-Abenteurer stöhnen auf - wir hingegen freuen uns über jeden Meter des noch sehr raren Asphalts. So z.B. über die gerade fertiggestellten 22 Kilometer südlich von Chaiten, die wir für unsere zweite kleine Radtour nützen. Sogar bei völliger Windstille heute (!) - das macht der schützende Bergwald aus. Dafür geraten wir auf den letzten fünf Kilometern in einen Starkregen, dass man kaum die Hand vor den Augen sieht. Schnell, die Räder wieder auf den Pickup, dann gönnen wir uns eine ausgiebige heiße Dusche, tanken voll und gehen unseren ersten Carretera-Austral-Schotter an.

Sauwetter an der Carretera Austral

"Hinter Chaiten geht es im Tal des Rio Yelcho zügig voran", heißt es im Reiseführer. Hmnja, wie man's nimmt - gerade mal 190 Kilometer werden wir bis zum Abend zurückgelegt haben, dazu brauchen wir fast sieben Stunden; das macht einen Schnitt von nicht ganz 30 km/h. Gleich nach dem Asphaltstück geht es voll zur Sache - holperig, mal graue, grobe und reifenfressende Vulkansteine, dann Passagen über gewachsenen Fels, pampelmusengroße Bachkiesel, Waschbrett und Löcher, die man gut als Kinderbadewanne verwenden könnte. Fast meinen wir, es zerlegt uns das Auto, selbst bei diesen langsamen Geschwindigkeiten. Doch die Landschaft ist großartig. Zweimal überqueren wir den Rio Yelcho auf ausladenden Hängebrücken, von weitem blitzt ein kleiner Gletscher hervor. Da, plötzlich vor uns zwei bunte, auf- und abhüpfende Punkte: Das sind doch glatt Guido und Horacio, die beiden italienischen Radler! "Was Straße dies!" stöhnt Guido - er hat seinen Anhänger leergeräumt und alles Gepäck auf den hinteren Gepäckträger verzurrt. Wenn das so weitergeht, meint er, will er den Anhänger verschenken. Horacio hält noch durch, aber beide sind merklich geknickt. Zum Glück haben sie als Rentner viel, viel Zeit. Dann, 40 Kilometer weiter - Oscar! Er sitzt gerade im Straßengraben und schient seinen an zwei Stellen gebrochenen Lowrider mit Kabelbinder und einem Stück Holz. Ehrlich, unseren Entschluss, diese Camioneta zu mieten, bereuen wir nicht!

Brücke über den Rio Yelcho

Unser Ziel für diesen Tag ist Puyuhuapi, ein hübsches Dorf wie aus Pionierzeiten. Einige niedrige, bunte Häuser verlieren sich am Ende des schmalen, langen Fjords gleichen Namens. Wir kommen bei Luisa Ludwig unter, und zwar in einem der stimmungsvollsten Holzhäuser, in dem wir je gewohnt haben. Frau Ludwig, die wir auf ca. 60 Jahre schätzen, ist die Tochter des früheren Sägewerkbesitzers, und der kannte sich natürlich im Holzbau bestens aus, verwendete sagenhaft schöne Hölzer und sparte beim Errichten seines Wohnhauses vor über 50 Jahren absolut an nichts. Und Luisa Ludwig kennt sich bestens aus in der Ortsgeschichte; sie gibt einen Prospekt für einen geführten Ortsrundgang heraus und eine sehr gute Webseite (www.puyuhuapi.org). Abends im gemütlichen Wohnzimmer erfahren wir, dass Puyuhuapi erst 1935 gegründet wurde, und zwar von vier sudetendeutschen Familien, die sich hier in absoluter Wildnis niederließen. Erst mit dem Bau der Carretera Austral kam in den 80er-Jahren der Straßenanschluss, vorher war Puyuhuapi nur per Schiff oder per Wasserflugzeug zu erreichen.

Heute ist Puyuhuapi ein richtiges Idyll und unbedingt einer der sympathischsten, friedlichsten Flecken, die wir in Chile besucht haben. Kaum zu glauben heute das Schicksal der allerersten Siedlerfamilie hier, in den 20er-Jahren: Die musste aufgeben und kam nie mehr zurück, nachdem der Vater, Pedro Llautureo, schwer krank geworden war und in einem kleinen Boot verstarb, während seine Frau ihn die 70 Kilometer nach Puerto Cisnes ruderte....

Auch die Sudetendeutschen hatten es natürlich nicht leicht. Einer von ihnen, Walther Hopperdietzel, gründete eine Teppichmanufaktur, und mit dem Erlös konnte man wichtige Dinge kaufen: Getreide, das in diesen Lagen schlecht wächst, Diesel für den Generator, Schrauben, Wellblech - alles musste natürlich per Schiff heran- und wegtransportiert werden, sowohl Hopperdietzels Teppiche und Ernesto Ludwigs Bretter als auch alle benötigten Güter. Heute noch stellen die Hopperdietzels hier wunderschöne Teppiche ("Alfombras") her - wir dürfen am nächsten Morgen den Betrieb besichtigen und stehen staunend vor uralten, riesigen Web- und Knüpfrahmen. Acht fleißige Frauenhände arbeiten eine ganze Woche an einem Wohnzimmerteppich von 2 x 4 Metern. Man kann sogar per Internet bestellen und sein gewünschtes Muster und die Maße anklicken (www.puyuhuapi.com). Sicher ein nettes Andenken an Nordpatagonien, ein solcher Teppich.

Puyuhuapi

Dann weiter, und wieder zieht die Carretera Austral alle Register. Zu den erwähnten Straßenbedingungen kommen jetzt noch Steigungs- und Gefällestrecken dazu von (geschätzt) bis über 15%. Landschaft weiterhin: wunderschön! Doch unsere Fahrräder auf der Ladefläche hüpfen selbst bei langsamer Fahrt auf und ab, dass einem angst und bange wird. Sie stehen aneinandergelehnt in Schräglage, sind am Überrollbügel festgezurrt und scheuern kräftig aneinander. Wie wir entsetzt feststellen müssen, hat nach nur 300 Pisten-Kilometern Sybilles Gepäckträger meinen fast ganz durchgesägt! Wenn wir jemals noch mit Gepäck nach Buenos Aires radeln wollen, müssen wir uns jetzt was einfallen lassen! Wir versuchen es mit dazwischengelegter Pappe, Stoffstücken, einer halben Klopapierrolle, Gummifetzen von einem alten Fahrradschlauch - alles hält maximal fünf Kilometer, dann ist es wieder durch. X-mal müssen wir wieder genervt auf die Ladefläche springen und ein neues Provisorium erfinden. Gottseidank hüpfen wir gegen 17.00 Uhr abends endlich mal wieder auf ein Asphaltstück und sind kurz darauf in Coyhaique. Dort kaufen wir ein Stück Gartenschlauch, stabiles Klebeband sowie einen Bohrer und bohren zunächst mal Löcher in eine alte Alercenschindel. Diese binden wir mit Draht an meinen Gepäckträger und polstern noch alle Streben mit aufgeschnittenem und drumherum geklebtem Gartenschlauch. Jetzt endlich haben wir wenigstens beinahe Ruhe. Jetzt müssen wir nur noch jede Woche einmal die Schlauchstücke ersetzen, bevor auch die durchgewetzt sind. Unglaublich, die Kräfte, die sich auf solchen Ripio-Etappen entwickeln!

Coyhaique ist mit rund 50.000 Einwohnern die einzige größere Stadt zwischen Puerto Montt und Punta Arenas und bekannt für ihr mildes Klima (!). Die Hauptstadt der XI. Region Aysen eignet sich auf jeden Fall sehr gut, um ein wenig zu verschnaufen, Klamotten zu waschen, Fahrräder auf Vordermann zu bringen (s. v.) und ein paar Flocken zu beschaffen, denn hier gibt es für längere Zeit den letzten Cajero automatico, sprich Bankomat. Wir mieten uns für drei Nächte ein in den Cabañas "El Mirador" und kriegen eine kleine Ferienwohnung mit monumentalem Rundblick über das Tal des Rio Simpson und die umliegenden Berge. Beim Essen schauen wir immer fasziniert von unserem Küchenerker aus zu, wie sich das Wetter und damit das Gesicht der Landschaft verändert, wie auf einer riesigen Schaubühne. Mal ist alles zugezogen, es regnet sintflutartig, dann kommt die Sonne raus, es gibt einen Regenbogen, dann könnte man wieder meinen, die Welt geht unter - und dann das Ganze nochmal von vorn, alles im Abstand von wenigen Minuten. Der steife Westwind bläst durch das Simpson-Tal vom Meer her wie durch eine Düse und sorgt für solche Kapriolen. Juan, unser Wirt, steht derweil draußen mit fliegenden Haaren auf der Leiter, singt eine Opernarie und erntet Kirschen, die bestenfalls hellgelb sind.

Blick auf Coyhaique

Wir versuchen es auch ein bisschen mit Rad Fahren, lassen es aber bei einer Kurzrunde bewenden, nachdem mich der Wind beim Sprung über eine Bodenwelle um fast einen Meter versetzt und ich beinahe auf die Schnauze falle. Das ist kein Land für Warmduscher und Schutzblechfahrer hier! Nachdem der Wind seit Chaiten kaum noch eine Rolle gespielt hatte, zieht er jetzt wieder alle Register: Wir überqueren hier den Andenkamm, verlassen die schützenden Waldländer und kommen jetzt so langsam in die fast baumlose patagonische Steppe.

Dann tanken wir wieder unsere Camioneta voll und gehen den weiteren Weg nach Süden an. Unweit von Coyhaique geht es über einen kleinen, nur rund 1100 Meter hohen Pass, dann folgt eine fetzige Abfahrt. Jetzt sind wir endgültig auf der Rückseite der Anden. Unglaublich, was das ausmacht, quasi auf einer Distanz von gerade mal 30 Kilometern! Bald ist der Himmel strahlend blau, kaum noch Wolken sind zu sehen (sie haben sich alle auf der Westseite der Anden abgeregnet), aber es bleibt stürmisch bis am Abend. Langsam ist uns auch klar, was hier abgeht: Das sind Föhnstürme, ähnlich etwa wie zu Hause im Tal des Alpenrheins und am Bodensee, wenn es südlich der Alpen regnet, nur noch viel extremer. Zu Mittag essen wir auf einem kleinen Mirador mit Blick auf den langgestreckten, riesigen Lago General Carrera unsere Salamibrote, dabei schwankt das Auto, als wolle es umfallen. Wenn wir aussteigen, können wir uns kaum auf den Beinen halten. Dabei kommt uns als alten Eisenbahnfans in den Sinn, dass es nicht allzuweit von hier mal einen ganzen Eisenbahnzug umgeweht hat (den berühmten Patagonien-Schmalspur-Express, 1959 nahe Norquinco) - unglaublich, sowas! Wo wohl Guido, Horacio und Oscar jetzt stecken?

Ab hier haben wir jetzt zwei Möglichkeiten: Entweder auf 300 Kilometern schlechtem Schotter um den Lago General Carrera herum oder mit der kleinen Fähre ab Puerto Ingeniero Ibanez in rund zwei Stunden direkt nach Chile Chico. Keine Frage, für was wir uns entscheiden! Kurz vor 16.00 Uhr dürfen wir aufs Schiff, das bis auf den letzten Platz belegt ist, Laster, Viehtransporter, Touristenjeeps, Militärfahrzeuge, ein Taxi - dazu der mit Plastikrohren beladene Lieferwagen eines Heizungsbauers, dessen Ladung bei jeder Welle leicht gegen die Ladefläche unserer Camioneta wippt.

Fähre über den Lago General Carrera

Doch trotz rauem Seegang genießen wir eine verhältnismäßig angenehme Überfahrt, bis wir am frühen Abend in Chile Chico von Bord rollen. Dort nehmen wir uns ein nettes, rustikales Zimmer auf einer kleinen, alten ehemaligen Estancia mit sehr nettem Flair. Das Abendessen wird im Wohnzimmer der Familie serviert, grober Dielenboden, offener Kamin, davor ein Pumafell mit Kopf, Satteldecken und Zaumzeug an der Wand, die Kids sitzen vor dem Fernseher - und wir sitzen nach dem Essen noch stundenlang im wunderschönen kleinen Garten zwischen Gladiolen und Löwenmäulchen auf der Terrasse in der Abendsonne, im tiefsten Patagonien, kaum zu glauben. Eine Reihe von Pappeln bricht den Wind und macht dies möglich, Wahnsinns-Bäume, riesenhoch und dicht ineinander verwachsen, und vorne sieht man über weite, stoppelige Wiesen bis zum See. Charles Darwin meinte einst (im übertragenen Sinne): "Patagonien ist völlig öde, wertlos und kann nur negativ beschrieben werden. Aber warum hat ausgerechnet dieses Land so einen festen Platz in meinem Gedächtnis errungen?" Heute fangen wir an, das nachvollziehen zu können.

Abends in Chile Chico

Am nächsten Morgen überschreiten wir die Grenze nach Argentinien, denn die Carretera Austral wird unweit von hier hinter Cochrane zur Sackgasse. Problemlos sind die Grenzformalitäten; wir müssen das Auto vom Zoll registrieren lassen, zack - der Stempel ist im Pass. Südamerikas zweitgrößtes Land, unser vierzehntes und letztes Reiseland an der Panamericana, empfängt uns gleicht hinter der Grenze mit feinstem Flüsterasphalt und führt sich damit recht gut ein. Bald sind wir in der Kleinstadt Perito Moreno, nicht zu verwechseln mit und noch Hunderte von Kilometern entfernt von dem gleichnamigen Gletscher.

Von Perito Moreno nach El Calafate und zum Nationalpark "Los Glaciares" sind es rund 650 Kilometer auf der berühmt-berüchtigten Ruta 40. Offroad-Fahrer und Abenteurer kriegen bei dieser Nummer glänzende Augen: Carretera Austral hoch zehn, wie wir hören, brutalster Schotter, kaum Siedlungen unterwegs, keine gesicherte Lebensmittel- und Benzinversorgung. Manche haben auf der Ruta 40 schon einige Tage ohne Sprit oder nach dem dritten Platten ohne funktionsfähigen Ersatzpneu neben der Strasse campiert. Nach ein paar Probe-Kilometern auf dieser Rallyefahrer-Ikone können wir das absolut nachvollziehen, drehen um und nehmen gerne die Alternative in Anspruch: Die Ruta 3 entlang der Atlantikküste, 1200 Kilometer bis Calafate, voll asphaltiert. Der Zeitaufwand ist der gleiche, und die Mehrkosten belaufen sich bei den sagenhaften argentinischen Spritpreisen von knapp 30 Cent pro Liter Super gerade mal auf 20 Euro. Unsere Fahrräder, Wirbelsäulen, Nerven und Autoreifen werden's danken. Also geben wir Gas und gehen diese Mammut-Etappe an. 1200 Kilometer vom Lago General Carrera (der in Argentinien Lago Buenos Aires heißt) bis zu den Gletschern, und dazwischen praktisch nix.

Jetzt sind wir wirklich in der echten, berühmten patagonischen Steppe. Die schon in Perito Moreno fernen Anden bleiben bald ganz zurück, dann bestimmt nichts als trockene Hartgrasbüschel das Bild, soweit das Auge reicht. Endlos lange Zäune versuchen die Schafe bei der Stange zu halten, die sich im weiten Graugrün verliehen. Manchmal sieht man Ölpumpen am Horizont, die sich nickend auf und ab bewegen. Langweilig, ja - aber auf ihre Art, da hat Darwin Recht, ist diese Landschaft stark beeindruckend, etwa so wie eine Wüste oder die offene See. Tolle Wolkenformationen bilden sich um und ständig neu; wenn man aussteigt, um zu knipsen, weht einen der Sturm fast um. Hin und wieder weisen weit entferne Pappelreihen auf eine kleine Estancia hin, meist in Bodensenken, wegen Windschutz und Wasser. Erstaunlich artenreich auch die Tierwelt hier: Guanacos schauen der vorbeiflitzenden Camioneta nach - die kennen wir aus Perus Hochlagen und hätten sie hier, praktisch auf Meeresniveau, wirklich zuletzt erwartet - ; massenhaft rennen Nandufamilien davon, kleine Straußenvögel, vorne die Mutter, dahinter ungelenk fünf, sechs putzige Federbüschel. Einmal sehen wir gar ein Gürteltier, in halb ausgetrockneten Lagunen stochern rosarote Flamingos und taucht der Ganso Patagonico, während Füchse auf Beutezug um die kleinen Gewässer schleichen. Und alle 120 bis 150 Kilometer passieren wir ein kleines Dorf, weltvergessen, ein paar staubige, einstöckige Ziegelhäuser, die meisten verlassen und mit eingeschlagenen Fenstern, dazu ein kleiner Laden, eine Benzinpumpe - vorne an der Atlantikküste wird die Besiedlung natürlich etwas dichter, einige Städtchen leben von der Ölindustrie, aber die Distanz zwischen den Siedlungen bleibt trotzdem recht groß.

Nandu

Interessant auch zu sehen, dass Argentinien ganz ähnlich europäisch geprägt und doch in Vielem ganz anders ist als Chile. Nett finden wir die Häuser, die meistens aus Stein und von der Optik her oft ein bisschen zwischen Art Deco und nüchtern-modernem Bauhaus-Stil angesiedelt sind; nervtötend jedoch die wirklich gemeinen Topes in jedem Dorf (siehe México), die sich ohne Vorwarnung quer über die Hauptstrasse ziehen. Interessant ist es auch, dass wir viele Autos sehen, die wir von zu Hause kennen (Peugeot, Renault, Fiat, Ford), die aber hier in Modellvarianten auftreten, die es in Europa niemals gab. Argentinien besitzt eine umfangreiche Autoindustrie, Zweigwerke europäischer Firmen zumeist, die hier ihre abgelegten Modelle noch eine Weile weiterbauen. Fiat verkauft beispielsweise gerade überaus erfolgreich den bei uns schon vor mehr als zehn Jahren ausgelaufenen Uno, dazu sogar eine Version mit Stufenheck; und der Peugeot 504 sowie der Renault 12, in Europa Erfolgsmodelle der 70er-Jahre, wurden erst kürzlich aus dem Programm genommen.

So wie die Kultur in Südchile von Deutschen geprägt ist, so haben in Argentinien Franzosen und vor allem Italiener ihre Spuren hinterlassen. Das hat seine sehr positiven Auswirkungen: Noch nirgends auf der Welt außer in Frankreich haben wir ständig so gutes Brot gegessen wie in Argentinien! Selbst der hinterste Dorfbäcker bringt mehrmals täglich feinstes frisches Baguette und Djabatta auf den Ladentisch, dazu köstliche süße Hefe- und Blätterteigteilchen. Und das Essen in Argentinien ist, falls das überhaupt möglich ist, nochmal eine Nummer besser als in Chile - und billig! Am ersten Abend in San Julian bezahlen wir für eine fantastische Riesenpizza, Salat, Weißbrot, zwei Bier, Kaffe und Nachtisch gerade mal 8,50 Euro. Und dabei hatten wir schon befürchtet, täglich einen riesigen Fleischlappen mit Kartoffeln hineinziehen zu müssen (obwohl ein schönes Steak zuweilen durchaus seine Reize hat). Auf jeden Fall: Wir sehen nahrhafte Zeiten auf uns zukommen! Wird Zeit, dass wir unsere Radel-Aktivitäten wieder verstärken.

Gutes vom Konditor

El Calafate hat etwa 3.000 Einwohner, und geschätzte 80% seiner Häuser sind Beherbergungsbetriebe. Vor 50 Jahren gab es gerade mal rund zwanzig Häuser hier und ein paar Läden zur Deckung des Bedarfs der umliegenden Estancias. Das explosionsartige Wachstum dieses Orts hat nur einen einzigen Grund: Gleich vor seinen Toren, das heißt gut 50 Kilometer westlich, liegt der Nationalpark "Los Glaciares", darin der berühmte Perito-Moreno-Gletscher. Der ist natürlich das absolute Must See in Patagonien, und selbst solche Pauschal-Reiseangebote wie "Ganz Südamerika in zwei Wochen" widmen den argentinischen Gletschern ganze zwei Tage. In Calafate stellt man sich nicht schlecht dabei.

Wo wirklich jeder Touri hinmuss, dürfen wir natürlich nicht fehlen. Frühmorgens brummt die Camioneta zügig nach Westen, am Lago Argentino entlang, Kurs Nationalpark. Kaum eine Wolke ist am Himmel, nur stürmen tut es wieder gewaltig, und in der Ferne sieht man eine Ansammlung grauen Dunsts. Doch kaum haben wir den Parkeingang erreicht, verdichtet sich der Dunst immer mehr; es weht dunkle Wolken von Chile herüber und bald beginnt es kräftig zu regnen. Weiter geht es auf Ripio; trotz miesem Wetter ist der Lago Argentino von einem fantastischen Türkisblau; etliche Eisschollen treiben jetzt darauf. Und bald sieht man tatsächlich den Gletscher in der Ferne, eine weißblaue Wand, wild zerklüftet und fast 100 Meter hoch. Vom Parkplatz können wir auf 10-minütigem Trail zu den Aussichtsplattformen wandern - und da liegt er vor uns, der Ventisquero Moreno, ein unbeschreiblicher Anblick, und im See davor schwimmen Eisberge in so zahlreichen Blautönen, wie wir es nie für möglich gehalten hätten. Manchmal kalbt der Gletscher, dann brechen unter ohrenbetäubendem Getöse Eisblöcke ab, die etwa die Größe eines Doppelhauses haben.

Der Perito-Moreno-Gletscher

Alle Gletscher hier im Park sind Ausläufer des Patagonischen Inlandeises, einer der größten zusammenhängenden Eismassen der Welt, alles in allem etwa knapp so groß wie die ganze Schweiz. Der Moreno-Gletscher ist dabei weltweit eine Besonderheit, denn seine Gletscherzunge ist eine der wenigen, die auch heute noch wächst. Der Ventisquero Moreno schiebt dabei seine Eismassen über eine Engstelle des Lago Argentino, bis sie vehement gegen die davor liegende Felswand drücken und einen Teil des Sees, den Brazo Rico, wie eine natürliche Staumauer vom Hauptsee abschnüren. Irgendwann wird dann der Wasserdruck zu groß und sprengt stückeweise in einem mächtigen Naturspektakel die Barriere. Das war lange so immer alle drei, vier Jahre der Fall. Nachdem aber die Eruption seit 1988 überfällig war, gab es erst vom 13. bis 15. März 2004 dieses Schauspiel wieder zu sehen - in jedem Hotel in Calafate wird das per Video oder Computer-Präsentation gezeigt, ein absolutes Jahrhundertereignis! Man nahm eigentlich an, dass die globale Erwärmung auch den Ventisquero Moreno zum Rückzug zwingt; doch schon spätestens 2006 rechnen Experten mit dem nächsten Bruch, soviel Eis hat sich zwischenzeitlich wieder angehäuft.

Auf jeden Fall, das war hier mal wieder ein Panamericana-Highlight erster Güte! Und obwohl heute kaum einmal ein Sonnenstrahl durch die Wolken dringt und immer wieder Regenschauer niedergehen, sind diese Eismassen ein wunderschöner Anblick. Eine Menge Film schießt durch die Kamera; vielleicht passt sogar gerade diese Wetterstimmung zu diesem arktischen Landschaftsbild hier am besten? Übrigens stehen wir an der Gletscherwand mit dem Rücken zu einem hübschen, kleinen Südbuchenwald, der wohl nur gerade wegen den häufigen Niederschlägen hier überhaupt wächst - nur 20 Kilometer weiter ist wieder nichts als dürre, baumlose Büschelgrassteppe. Und nur 20 Kilometer weiter, auf der Rückfahrt, ist bei Sturm as usual der Himmel wieder strahlend blau. Sybille übernimmt das Steuer der Camioneta, ich lade mein Fahrrad ab und gehe den Rückweg nach Calafate im Sattel an. Ha, da fahre ich doch glatt 45 km/h ohne zu treten, mit zusätzlicher Pedal Power bringe ich es auf 70 km/h! Spaßeshalber wende ich einmal und radle einen Kilometer zurück -  5 km/h Maximum bei voller Lungenleistung. Ehrlich, jedem Biker, der es aus eigener Kraft von Puerto Montt bis hierher schafft, sprechen wir unsere vollste Hochachtung aus.

Zwei Wochen und mehr als 2.500 Kilometer sind wir jetzt in Patagonien unterwegs, doch ein Steinchen in unserem Patagonien-Klischee-Puzzle fehlt immer noch: Wir wollen endlich mal sehen, wie es auf einer Working Estancia zugeht, wie Gauchos immense Schafherden vor sich her treiben und fleißige Peones die Merinos im Akkord von ihrer Wolle befreien. Doch ist das gar nicht so einfach - man kann ja schlecht an einem beliebigen Rancho an der Tür den Besitzer herausbimmeln: "Hola, wir heißen Schröder, aus Alemania, und könnten Sie nicht freundlicherweise für uns ein paar Schafe scheren?" Zumal nahezu alle dieser vierbeinigen Rasenmäher hier schon recht kahl herumrennen und demnach schon geschoren sind. Doch in Calafate gibt es jede Menge Tour-Angebote, und so buchen wir bei "Andina Sur" für morgen und für 20 Euro p/pax einen halbtägigen Trip zur Estancia "Alice", draußen vor den Toren der Stadt, komplett mit Schafschur, Lamm-Barbecue und Folklore-Vorführung. Naja, mal sehen - fehlt nur noch eine "Verkaufsveranstaltung, an der Sie nicht teilnehmen müssen".

Die Estancia "Alice" ist ein für unsere Begriffe riesiges Anwesen. Ein Kleinbus bringt uns hin; schon von weitem sieht man eine Ansammlung weißer Häuser mit roten Dächern, viel Weideland drumrum. Drei Reisebusse stehen schon da - der Estanciero macht auf Agriturismo und hat auch so eine Art Luxushotel eingerichtet. Das kann ihm niemand verdenken, denn die Schafwollpreise sind total im Keller und auch für Lammfleisch gibt's nicht allzuviel. Etliche Estancias sind heute aufgegeben; das Land liegt brach, weil sich die Schafzucht nicht mehr lohnt. Doch ist es schon recht lustig, wenn 150 Personen gemeinsam einen Bauernhof besichtigen. Immerhin gibt es ein gigantisches Kuchenbuffet, dann wird uns gezeigt, wie gut dressierte Hunde die Schafe zusammentreiben. Wir erfahren, dass diese Estancia hier mit 140 ha sehr klein ist und gerade mal 600 Schafe hat - andere Betriebe, die noch einigermaßen wirtschaftlich arbeiten, haben 35.000 Merinos bei 50.000 ha Betriebsfläche und mehr.

Estancia Alice

Tja, auf "Alice" hatte man wohl wirklich keine andere Überlebenschance als den Agriturismo. Immerhin stammt die Schafschurhalle, der Galpon, noch aus der Zeit, als das hier noch eine richtige Working Estancia war. Drinnen sind Amphitheater-artige Sitzreihen aufgebaut, und jetzt wird ein einziges Schaf unter dem Klatschen der begeisterten Menschenmassen von seiner Wolle befreit. Es hat mächtig Lampenfieber angesichts dieser Kulisse, verliert noch schnell ein paar Böppel, dann ist die Show zuende und das Tier wird in seine kahle nähere Zukunft entlassen. Das Barbecue hinterher jedoch ist nicht schlecht, wobei die Volkstanz-Veranstaltung nicht unbedingt nötig gewesen wäre. Fazit: Für 20 Euro sehr gut gegessen, erster Estancia-Eindruck - da müssen wir unbedingt noch tiefer schürfen, zumal drunten auf Feuerland erst jetzt gerade die Haupt-Scherarbeit ablaufen soll.

Weiter geht es, Ruta 40, Kurs Süd. Meistens asphaltiert ab hier, doch ein weiteres (wenngleich kurzes) Stück Ripio bleibt uns nicht erspart, dann kommen wir nach Rio Turbio, einem tristen Kohlen-Kaff, und überschreiten wieder die Grenze nach Chile. In Südpatagonien und auf Feuerland haben sie die Grenze mit dem Lineal gezogen, nachdem die Chilenen und die Argentinier, die sich durchaus nicht immer sonderlich grün sind, sich mehrfach kräftig beharkt hatten. Die letzten offenen Grenzstreitigkeiten datieren aus dem Jahr 1984, dabei ging es um ein paar kleine, unbewohnte Inseln im Beagle-Kanal. Heute lebt man in gespannt-friedlicher Nachbarschaft, treibt Handel oder macht sogar beim alten "Erbfeind" Urlaub. Doch gibt es so die kleinen Spitzfindigkeiten, um dem Nachbarn eins auszuwischen. Kein einziges Schild weist zum Beispiel in Rio Turbio den Weg zur chilenischen Grenze. Wir sollen uns nach den Wegzeigern mit der Aufschrift "Mina 1" richten, wird uns auf unsere Frage hin erklärt. Und drüben bei den Chilenen ist es andersrum genauso. Eigenartig, welche Blüten der Nationalstolz manchmal weltweit treibt - damit können wir nun wirklich überhaupt nichts anfangen! Uns Etranjeros gegenüber jedoch sind sowohl die Chilenen als auch die Argentinier ausnahmslos herzlich und gastfreundlich, praktisch null Unterschied. Aber jetzt wissen wir endlich, warum uns in Argentinien immer so viele Autofahrer mit der Lichthupe gegrüßt haben. Das waren immer Chilenen, die uns kraft unseres Nummernschilds für Landsleute hielten und uns auf diese Weise ihre uneingeschränkte Solidarität im feindlichen Ausland versicherten.

Bei Puerto Natales

Im chilenischen Puerto Natales stehen wir seit langem mal wieder am Pazifik, genauer gesagt an einem seiner zahlreichen wurmfortsatzartigen Fjorde. Dort nutzen wir die windgeschützte Lage und die schöne, neue Betonstraße für eine kleine Radtour. Herrlich, mal wieder so entspannt vor sich hin zu pedalen! Doch nicht lange; gleich bei der ersten kleinen Bodenwelle macht es "Zingg", mein Fahrrad beginnt zu schlingern, und jetzt ist er endlich hin, der Rahmen. Die angebrochene Hinterbaustrebe ist vollends gerissen, war ja vorauszusehen! Vorsichtig eiern wir in die nächste Hinterhofwerkstatt - und haben Glück: Der Meister, der gerade die Bremsscheiben bei einem Kleinbus wechselt, lässt gleich alles fallen, schickt eigens seinen Hiwi zum Schweißdraht kaufen, setzt dann sauber mit dem Schutzgas-Schweißgerät drei Schweißpunkte, flext alles plan und streicht sorgfältig eine Lage mitternachtsblauen Toyota-Metalliclack darüber. Wie denn das gekommen sei? "Tja", meine ich arglos, "wir sind mit diesen Fahrrädern von Lima / Peru bis Puerto Montt geradelt, über viele schlechte Straßen, und zum Schluss waren wir noch in Argentinien..." Heftig nicken alle anwesenden Mechaniker mit dem Kopf - das weiß ja jeder, dass in Argentinien die Straßen muy malo sind! Wir müssen noch haarklein von unserer Tour berichten, dann schütteln uns alle die Hand, "Suerte", und jede Bezahlung wird energisch abgelehnt. Auf jeden Fall sollen wir von Chile einen besseren Eindruck behalten als von Argentinien. Wenn's nicht zum Heulen wär, dann wär's zum Lachen.

Puerto Natales ist auch wieder so ein Einfallstor zu diversen erstrangigen Natursehenswürdigkeiten, ähnlich wie Calafate. Gleich um die Ecke liegen die berühmten Torres del Paine, Traum jedes Extremkletterers, die spitzen Nadelzinnen, auf denen sich nicht mal der Schnee zu halten vermag.

Die Torres del Paine

Wir machen zu deren Füßen eine mehrstündige Wanderung, mit Legionen anderer Touris, in Dreierreihen. Komisch, uns sagt dieses Naturwunder nicht so viel, wir empfinden das als eine etwas vergrößerte Ausgabe der Dolomiten - sind wir vielleicht langsam überfüttert? Wenn man kurz vorher bei den argentinischen Gletschern war, dann ist das halt nur sehr schwer zu toppen. Die Chilenen werden's nicht gern hören.

Stattdessen interessiert uns immer noch stark die patagonische Schafzucht- und Estancia-Kultur. So radeln wir natürlich gleich die paar Kilometer nach Puerto Bories hinaus und besichtigen die alten Industrieanlagen. Hier betrieb seit 1905 die Sociedad Explotadora de Tierra del Fuego, eine Art Kooperative der grössten Estancieros von Patagonien, eine Fabrik zur totalen Verwertung des Schafes, genannt Frigorifico Bories. In den beeindruckenden alten Ziegelhallen, die gerade restauriert werden, gab es Schlachthäuser, Hautverwertungsanlagen, Wollwäschereien, Knochenmühlen, eine Seifensiederei und vor allem Kühlhäuser - seit 1915 konnte man nämlich das Lammfleisch per Kühlschiff nach Europa transportieren, nach England hauptsächlich, einer der Haupt-Lieferhäfen war aber auch Bremen. Hochinteressant sind die historischen Gebäude, vor allem die Maschinenhalle mit den alten Dampfmaschinen und Generatoren, alles made in England, zum Teil bestens erhalten.

Frigorifico Bories

1969 wurde der Betrieb verstaatlicht (Allende!), nachdem er vorher mit ausländischem Kapital gearbeitet hatte; ab der Ära Pinochet betrieb eine private Gesellschaft den Laden weiter bis 1992. Dann wurde leider vieles abgewrackt; zum Beispiel verkaufte man die hölzernen Wände der Kühlhäuser als Bau- und Brennholz, und so ging viel historische Substanz verloren. Doch auch die verbliebenen Reste sind ein absolutes Technik- und Kulturdenkmal; die Stimmung in den alten Anlagen ist von einem ganz speziellen Reiz, zumal wir heute die einzigen Besucher sind.

Die Aktionäre und Auftraggeber der alten Fabrik, das waren die ganz Großen im Schafgeschäft. Natürlich wohnten sie nicht in Puerto Bories, sondern in Punta Arenas, 100.000 Einwohner, Hauptstadt der XII. Region (Magellanes y Antarctica), südlichste Kontinentalstadt der Welt und damals der einzige Ort in Patagonien, der wenigstens ansatzweise weltstädtischen Flair aufkommen ließ. Braun und Menendez hießen dort Ende des 19. Jahrhunderts die reichsten Viehzuchtfamilien; direkt an der Plaza liegt das Stadtpalais der legendären Sara Braun, welche die Sociedad Explotadora de Tierra del Fuego gegründet hatte. Keine Frage auch, dass sich Mauricio Braun (Saras Bruder) und Josefina Menendez Behety nach ihrer Hochzeit im Jahr 1903 ebenfalls ein bescheidenes Heim bauen und sich bei der Ausstattung erst recht nicht lumpen ließen: Der Palacio Braun Menendez, nur einen halben Block von der Plaza entfernt, ist heute ein Museum und zeigt anschaulich den Lebensstil der damaligen Hautevolee: Französische Tapeten, Waschtisch aus Carrara-Marmor, lederbezogene Sessel und Billardtisch aus England, vergoldete Kamingitter aus Flandern und ein Bild von Picassos Vater Ruiz Blasco im Salon. Fast noch interessanter die Nebenräume: Moderner Gasherd in der Küche, daneben ein ganzer Kühlraum für die Lebensmittel, Zentralheizung, Durchlauferhitzer. Alles das hätte auch dem feinsten Bürgerhaus in Paris zur Ehre gereicht, und keine Schraube, noch nicht mal das Holz des Parkettbodens, war aus Patagonien - jedes Teil wurde eigens aus Europa über den Atlantik herangeschippert, und auf der Rückreise nahmen die Großsegler und frühen Dampfer dann tonnenweise Schafwolle mit in die Alte Welt.

Stadtpalais von Sarah Braun Palacio Braun-Menendez

Sehr interessant dann noch im Anschluss ein kleiner Gang über den städtischen Friedhof: Dort ruhen die sterblichen Überreste der frühen Schafbarone sowie der Honoratioren von Punta Arenas in klotzigen Mausoleen, größer und prunkvoller als die Wohnhäuser jeder heutigen chilenischen Durchschnittsfamilie. Selbst im Tod hat sich die damalige "Bessere Gesellschaft" noch gegenseitig zu übertrumpfen versucht.... Tja, die Schafe. "Alles war Schaf", so beschreibt ein Historiker lapidar die goldenen Jahre Patagoniens. In anderen Quellen ist von "Weißem Gold" die Rede. Das kann man ohne Weiteres so stehen lassen.

Punta Arenas wurde bereits 1848 gegründet, zu einem Zeitpunkt, als von der Schafzucht noch lange keiner sprach. Zunächst war Punta Arenas eine Sträflingskolonie und ein Militärstützpunkt, doch bald entwickelte sich auch ein wichtiger Hafen. Die Stadt liegt nämlich strategisch günstig an der Magellanstraße, dieser wichtigen Ost-West-Verbindung, die der Portugiese Fernando de Magalhaes (= Magellan) auf seiner berühmten Expedition 1520 entdeckt hatte. Bis zur Eröffnung des Panamakanals 1914 nahmen alle Schiffe, die an die US-amerikanische Westküste wollten, diese verwinkelte Route (oder die schnellere, aber wesentlich gefährlichere um Kap Hoorn). Und auf der anderen Seite des Estrecho de Magellanes liegt Feuerland, das die ersten Europäer zunächst für ein bis an den Südpol reichendes Festland hielten.

Eigentlich hätten wir uns die Magellanstraße völlig anders vorgestellt, so als fjordartigen, tiefen Einschnitt in einem wilden Gebirge, durchsetzt von Riffen, an denen die Brandung gischtet, ein Schrecken aller Seefahrer. Doch nur flaches Grasland bricht hier in einer kleinen, kaum 100 Meter hohen, sandigen Steilstufe ins Meer ab. Feuerland, auf der Fahrt zum Fähranleger Punta Delgada bald am anderen Ufer auszumachen, sieht genauso langweilig aus. Es ist einfach immer wieder spannend, die aus dem lange zurückliegenden Geografieunterricht herübergeretteten Eindrücke an der Realität zu überprüfen! Immerhin hat es aber Wellen mit ein paar Schaumkronen, und bei San Gregorio liegen zwei alte Schiffswracks auf dem Strand, quasi als Ehrenrettung für diese vermeintlich so gefährliche Wasserstraße.

An der Magellanstraße

Darwin jedoch war 1834 beeindruckt: "Ein einziger Blick auf eine solche Küste reicht hin, um einen Menschen vom Festland eine Woche lang von Schiffbrüchen, Gefahr und Tod träumen zu lassen", äußerte er sich in seinen Aufzeichnungen. Zu den Assoziationen von Sturm, Kälte und ewiger Finsternis, die einem bei Nennung des Namens "Feuerland" unwillkürlich beschleichen, kommen noch die flackernden Feuer der Ureinwohner, die Magellan bei seiner Fahrt am Ufer sah. Und in meinem Hinterkopf hält sich seit mindestens 35 Jahren hartnäckig das Gerücht, dass eben diese Ureinwohner jährlich für wenigstens fünf Monate mit einem großen Klumpen Lehm im Bauch in eine Art Winterschlaf verfallen. Beziehungsweise verfielen, richtig gesagt - längst sind nämlich die Selk'nam, Haush, Yamana usw. ausgestorben, an eingeschleppten Krankheiten und an der brutalen Landnahme der weißen Siedler: Zeitweilig wurde für jeden toten Indianer ein Pfund Sterling bezahlt.

20 Minuten dauert die Überfahrt, dann öffnet die "Bahia Azul" ihre Verladeklappe und wir rollen mit der gesamten Meute von Touristenjeeps und schwer beladenen Lastzügen in Feuerland von Bord. 34 Kilometer schöne, neue Betonstraße, dann beginnt wieder der Ripio, und gleichzeitig die Stampede um einen guten Platz in der Schlange beim erneuten Grenzübertritt nach Argentinien und um eines der wenigen Hotelzimmer in Rio Grande. Dabei zerreißt es unserer Camioneta im Steinehagel eines einzigen überholenden Geländewagens die Windschutzscheibe und beide Lichter. Abends sind unsere Augen blutunterlaufen und die Fahrräder auf der Ladefläche (statt normalerweise enzianblau) rehbraun vom Staub. Wir schauen uns vielsagend an und denken unbewusst mal wieder beide das Gleiche: Wie gut, dass wir hier nicht jeden Meter radeln müssen....

Nur noch 320 Kilometer!

Rio Grande gilt als absolutes Zentrum der feuerländischen Schafzucht. Ein prüfender Blick über die weiten Weideflächen zeigt: Mindestens 80% der zahlreichen Merinos rennen hier im tiefsten Süden noch im Winterpelz herum - wenn wir jemals noch der Schafschur beiwohnen wollen, dann jetzt! Zielstrebig verlassen wir also die hier wieder geteerte Hauptstraße und biegen in einen der vielen schotterigen Seitenwege ein, an deren Beginn immer Wegtafeln auf weit im Hinterland verstreute Ranchos hinweisen. Und so kommen wir zur Estancia "Maria Behety", 17 km außerhalb der Stadt gelegen, mitten im weiten Grasland zwischen ein paar Hügeln, die wenigstens ein bisschen Windschutz geben. Rundum das ganze Land gehört dazu, 60.000 ha (!), wie wir später hören, das heißt, ein Stück von 30 km Länge und 20 km Breite. Da hätte die gesamte Estancia "Alice" in der Garage Platz. Und, Behety - war da nicht was? Richtig, so hießen die Vorfahren mütterlicherseits von Josefina Menendez, verheiratete Braun. Ein Betrieb des uralten patagonischen Schafzucht-Adels also. Da wären wir ja jetzt endlich an der Quelle.

Estancia "Maria Behety"

"Maria Behety" wirkt fast wie ein kleines Dorf, viele Wohn- und Verwaltungsgebäude sind zu sehen, das ist ein Riesen-Business! Rechter Hand sehen wir ein gewaltiges Gebäude vor uns, fast wie eine Kreuzung aus Flugzeug-Hangar und Fabrikhalle, jedoch mit viel historischem Charme, Wellblech-verkleidet und mit schmiedeeisernem Dachschmuck - die Schafschurhalle, der Galpon! Schüchtern parken wir den Toyota in einer entlegenen Ecke und fragen mal ein paar vorbeikommende Peones, ob man eintreten dürfe. Kein Problem, antwortet man uns freundlich, dort sei der Eingang - und jetzt sehen wir endlich alles, was schon immer zu unserem Patagonien-Feuerland-Bild gehört hat: Lange Antriebswellen rotieren unter der Decke, Schwungräder und Transmissionsriemen treiben eine Vielzahl von Scherköpfen an, und an mindestens 30 Arbeitsplätzen scheren Peones die Schafe im Akkord. Andere sortieren Wolle oder reinigen diese, die Wollpresse ist in Betrieb und fertigt zum Export bestimmte Ballen, und eine Menge Schüler verdienen sich in den Ferien ein paar Pesos, indem sie die gerade geschorene Wolle zum Aufbereiten tragen. Malerische Gestalten sind es, die hier arbeiten, in Wollmützen, Lederstiefeln und zum Teil in Fußballtrikots. 250 - 280 Schafe schert ein guter Peon in einem Tag, das muss man sich erst mal vorstellen! Da bleibt nicht mehr Zeit als anderthalb bis zwei Minuten pro Tier.

Schafschur

Trotzdem ist die Atmosphäre zwar angenehm geschäftig, jedoch nicht hektisch, und es macht unheimlich Spaß, hier zuzuschauen. Dichtgedrängt warten die Schafe in engen Boxen auf ihre "Bearbeitung", schwupp, wird eines an den Vorderläufen gepackt und rückwärts zum Scheren gezogen. Kaum ist es rasiert, kriegt es einen Klaps und darf in den äußeren Pferch hinausrennen. Draußen treiben Gauchos und Kelpie Dogs die Herde zusammen, zudem werden Laster be- und entladen (wahrscheinlich werden auch Schafe von auswärts hierher zum Scheren gebracht). Trotz dem ganzen Betrieb hat man noch Zeit für ein paar Worte, fragt, woher und wohin, wünscht viel Glück für die Weiterreise - eine sehr sympathische Atmosphäre herrscht rund um diesen Galpon, und der Besuch auf der Estancia "Maria Behety" war für uns was vom Interessantesten unserer ganzen Patagonien- und Feuerland-Etappe. 40.000 Schafe haben sie übrigens hier, eine schier unvorstellbare Menge.

200 Kilometer sind es noch bis Ushuaia, mal Asphalt, dann Schotterstrecke, wieder Asphalt - und, kaum zu glauben, bald fahren wir durch Wald, ringsum schöner Mischwald aus Nadelhölzern und Südbuchen. Das hätten wir von Feuerland jetzt wirklich ganz zuletzt erwartet! Und Berge türmen sich auf, bis zu 1500 Meter hoch, zum Teil die Spitzen von Neuschnee überzuckert. Das sind immer noch die Anden, die letzten Ausläufer dieses faszinierenden Gebirges, das uns nun schon seit Ecuador und über mehr als 7000 Kilometer begleitet. Wir überqueren sogar nochmal einen Pass, den gut 600 Meter hohen Paso Garibaldi, in einer Szenerie wie in den Alpen - das grasige Schafzucht-Feuerland ist jetzt weit entfernt. Dann senkt sich die Straße durch ein wildes Flusstal hinab, und bald sind wir in Ushuaia, der Ciudad mas austral del mundo, der südlichsten Stadt der Welt, wie ein schönes Holzschild verkündet.

Ushuaia

Ha, Panamericana-Mission beendet, könnte man jetzt denken - das hier ist sowas wie der Gegenpol zu Alaska, zu Anchorage, end of the trail. Gar kein so schlechtes Ende der Welt, muss man sagen! Ushuaia mit seinen bunten Holzhäusern, die sich die Hänge um die "Bucht, die nach Osten weist" (das ist die Übersetzung des indianischen Ausdrucks "Ushuaia") hinaufziehen, hat durchaus Charme und ist ein prosperierendes Wirtschafszentrum. Der Staat Argentinien sorgt mit Subventionen für die Ansiedlung von Industrie, viele Betriebe der Elektronik-, Audio- und Videobranche sind dabei, Sony, Philips, doch die Haupt-Einnahmequelle ist und bleibt der Tourismus. Dieses Städtchen ist etwa die südliche Version von Hammerfest, Norwegen, und derzeit mit Sicherheit einer der bei den Touristen beliebtesten Orte ganz Amerikas. Jeder Subpolar-Kreuzfahrer legt hier an, und manchmal scheint die Zahl der Touris die der Einheimischen bei weitem zu übersteigen. Hier gibt es das südlichste Postamt, die südlichste Eisenbahn (lächerliche acht Kilometer Streckennetz), das südlichste Cafe und sicher auch die südlichste Kloschüssel der Welt, und sicher gibt es keinen einzigen Patagonien-Feuerland-Tourist, der nicht in Ushuaia war.

Nicht ganz einfach ist es, hier ein Zimmer zu kriegen! Auf Vermittlung landen wir schließlich bei Guillermo, einem etwas verschlafenen, aber freundlichen Typ, der ohne Weiteres als eine etwas ältere Version der Comic-Figur "Gaston Lagaffe" durchgehen könnte. Guillermo überlässt uns für drei Tage die Wohnetage seines netten kleinen Hauses und schläft solange auf einer alten Matratze im Keller. Sicher kann er die Pesos gut gebrauchen, und auch wir sind's zufrieden: Jetzt haben wir eine richtige kleine Ferienwohnung, mit Kühlschrank, Herd und Backofen, dazu einen prächtigen Panoramablick über die ganze Stadt und die Bucht und unter uns die leerstehenden Fabrikationshallen des Konkurs gegangenen Radioherstellers GRUNDIG. Zur Feier unserer Ankunft setzen wir den Backofen gleich in Marsch und es gibt eine ordentliche Portion Kässpatzen "à la Feuerland" mit Schinken-Tomaten-Soße, dazu eine Flasche Rotwein aus Mendoza, und dann schauen wir noch endlos lang von unserer gemütlichen Essecke hinaus auf den Beagle-Kanal, auf dem schaumgekrönte Wellen treiben und ein reger Verkehr an Schiffen in allen Größen herrscht.

Tja, jetzt sind wir wirklich ganz unten angekommen! Weiter südlich gibt's nur noch ein Gewirr an kaum besiedelten Inseln, auf einer davon Kap Hoorn, dann beginnt das ewige Eis der Antarktis.

Blick auf Kap Hoorn   Urheber: Piet Barber,
© siehe hier

Unsere schöne Panamericana-Etappen-Tour ist jetzt Geschichte, und unsere Gedanken kreisen um die unzähligen Highlights, die wir sehen und erleben durften, um Alaska / Yukon, Oregon Coast, Redwoods, San Francisco, Baja California, die Relikte der Maja-Kultur, Panamakanal, Galapagos, die tollsten Eisenbahnen der Welt und um die Inka-Monumente, um die Nazca-Linien, die Atacama und um Argentiniens Gletscher. Und wir sind unsäglich froh, dass wir den Hintern hochgekriegt und uns den Herausforderungen gestellt haben, der Angst vor Bären, dem endlosen Gegenwind, der miesen Behandlung durch manche Fluggesellschaften, dem Tropenregen, der Backofenhitze, der cubanischen Abzockung und dem bolivianischen Dünnschiss. Die positiven Eindrücke wiegen das bei weitem auf - und dabei, nicht zuletzt, die unzähligen freundlichen und sympathischen Menschen, die wir fast überall unterwegs getroffen haben. Vielleicht die wichtigste Erkenntnis dieser Reise: Horcht nicht auf Latrinenparolen, auf die Vorurteile von Zeitgenossen, die hinter jeder Hausecke einen Schuft, hinter jedem Busch einen Schwerverbrecher und in jedem Nachbarn einen Halsabschneider sehen. Wie sprach doch schon Humboldt: "Die schlimmste Weltanschauung ist die derjenigen, die die Welt nie angeschaut haben". Natürlich muss man Augen und Ohren offen halten; eine solche Tour bietet sicher so manches Risiko, aber noch viel mehr Chancen. Denn die Erlebnisse, die unglaubliche persönliche und mentale Bereicherung einer langen Reise, das kann einem keiner mehr nehmen.

Doch eine winzige, unbedeutende Kleinigkeit fehlt noch: Ushuaia ist zwar die südlichste Stadt der Welt, aber der südlichste Straßenpunkt, der ist hier nicht. 30 Kilometer muss man noch dransetzen, bis man an der Wendeplatte im kleinen Nationalpark "Tierra del Fuego" wirklich am Ende aller Straßen steht. Ehrensache, das gehen wir jetzt per Fahrrad an, trotz Ripio und Nieselregen, aber bei fast völliger Windstille. Ganze Menschenmassen werden in Bussen herangekarrt; so wie jeder Nordland-Urlauber unbedingt ans Nordkap muss, will jeder Patagonien-Feuerland-Tourist mit dem berühmten Schild hier geknipst werden. Wir müssen glatt eine Weile Schlange stehen, dann drückt ein freundlicher Canadier auf den Auslöser unserer alten Canon - Klick, das Bild ist im Kasten.

Am Ende aller Straßen

17.848 Straßenkilometer bis Alaska, sagt das Schild. Bei uns waren es mit allen Umwegen 15.066 Radel-Kilometer, dazu rund 10.000 mit PKWs und Bussen, 4000 mit diversen Fährschiffen und 3500 mit der Eisenbahn. Wie die wohl auf 17.848 Gesamtkilometer kommen? Teufel auch, jetzt hätten wir doch glatt Lust, unsere Lenker nach Norden zu drehen, zurückzuradeln und nachzuprüfen, ob das auch stimmt.

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